Seite:Die Gartenlaube (1872) 210.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Unterhaltung, zu welcher Alles geladen sei. Wollte daher die Signorina, meinte der redselige Wirth, sich vielleicht hinunter bemühen, so dürfte ein ausgezeichnetes Clavier, welches zum Vergnügen der Gäste neben dem Speisesalon in einem kleinen Nebenzimmer stehe, zur Zerstreuung der Eccellenza beitragen, umsomehr, da Eccellenza dort ganz ungenirt sein würde, indem, wie gesagt, keinerlei Gäste zugegen wären.

Das war ein Ausweg in dieser trostlosen Eintönigkeit eines hereinbrechenden Winterabends, und mit Freuden nahm ich den Vorschlag des zuvorkommenden Wirthes an. Meine Tante wußte ich ja in den besten Händen, in denen ihrer langjährigen Kammerfrau. Ich befahl derselben, ihre Herrin bei deren Erwachen von meinem Entschlusse in Kenntniß zu setzen, und folgte dem Wirthe in sein sogenanntes Musikzimmer.

Es war dies ein kleines, helles Zimmer, neben dem Speisesaale gelegen, welch letzteren man passiren mußte, um dorthin zu gelangen. Ein schlecht erhaltenes, verwahrlostes Piano befand sich in demselben. Nichtsdestoweniger ward dieses Instrument in jenem Augenblicke für mich gleichsam zur erlösenden Aeolsharfe, welche mir die Langeweile bannen sollte. Ich war nichts weniger als Virtuosin und bin es auch noch zur Stunde nicht, doch ich hatte stets eine große Vorliebe für Musik und mein Vater hielt mir die besten Lehrer der Residenz, um mich in dieser Kunst auszubilden. Meine Force bestand im Auswendigspielen. Daher kam es auch, daß ich an jenem Abende die hervorragendsten Nummern der mir von je so lieb gewesenen Oper „Die Hugenotten“ spielte.

So mochte ich in der Dämmerung wohl über eine Viertelstunde gespielt haben. Der Wirth brachte Licht, ich spielte weiter. Das Clavier stand an der dem Eingange entgegengesetzten Wand, und ich hatte somit der Eingangsthür des Speisesaales den Rücken gekehrt. Ich begann soeben den Chor der Verschwörer im zweiten Acte zu spielen und bemühte mich, denselben nach besten Kräften durchzuführen. Da hörte ich plötzlich eine Stimme dicht hinter mir die Worte sprechen: „Sie spielen den Chor ganz unrichtig, mein Fräulein, Ihre Auffassung steht nicht auf der Höhe der Situation, ist nicht klar.“

Erstaunt, ja erschrocken wandte ich mich um. Im Eifer meines Spiels hatte ich Niemanden in’s Zimmer treten gehört, und war daher nicht wenig überrascht, plötzlich die Gestalt eines Mannes von ungefähr sechszig Jahren neben mir zu sehen. Etwas Schwächliches, Geknicktes lag in der Gestalt dieses Mannes, dessen Figur klein und hager war. Sein Haar war bereits vollständig ergraut, doch unter der etwas niedrigen, aber breiten Stirn blickten eine Paar große kastanienbraune Augen, von einer eigenthümlichen Form und Zeichnung, welche dem ganzen Antlitz einen bedeutenden Ausdruck verliehen, auf mich herab. Noch jetzt nach Jahren sehe ich den Ausdruck dieser Augen vor mir, forschend, geistsprühend und wieder mild und träumerisch, deren Blick in späterer Zeit so oft mit wahrhaft väterlichem Wohlwollen auf mir geruht hatte. Doch all’ diese Eindrücke empfand ich erst später, in jenem Augenblicke waren sie mir fremd. Damals hörte ich nur die tadelnden Worte aus dem Munde eines mir gänzlich Unbekannten, meine verletzte Eitelkeit erwachte, und ich fand keinen Ausdruck über die maßlose Kühnheit der mir gegebenen Rüge. Wie konnte ein Fremdling es wagen, mich, das bis jetzt nur an Schmeicheleien aller Art gewöhnte, verzärtelte Mädchen, zu tadeln? Wie konnte er sich nur einfallen lassen, Das für schlecht zu erklären, was meine gut bezahlten Hauslehrer, der zahlreiche Kreis unserer zuvorkommenden Hausfreunde für eminentes Talent ansahen!

So rief die erwachte Mädcheneitelkeit in mir und die Folge war, daß ich die Gegenwart des mir als aufdringlich scheinenden Fremden mit stiller Nichtbeachtung strafte und ruhig weiter spielte, als sei Niemand zugegen, trotzdem der Fremdling mir nicht von der Seite wich. War es nun die beengende Nähe einer mir unbekannten Person oder sonst ein Grund, welcher meine Finger unsicher über die Tasten gleiten, mein Gedächtniß erlahmen ließ: gewiß war, daß ich falsch, unrichtig spielte. Da tönten zum zweiten Male die Worte an mein Ohr:

„Die letzten Tacte faßten Sie wieder ganz unrichtig auf, es ist ein Adagio Maestoso, während Sie glaubten, im fortissimo den passenden Ausdruck gefunden zu haben, mein Fräulein.“

Der Fremde sprach diese Worte mit überlegener Ruhe, lächelndem Munde, aber gerade diese Ruhe reizte mich. Ich wußte, daß ich falsch gespielt hatte, ich war aber an Tadel in dieser Form nicht gewöhnt. Ich sah zu dem Fremden empor, mit stolzem, geringschätzendem Ausdruck, doch als ich dessen unscheinbare Gestalt so neben mir erblickte, da erwachte mädchenhafter Uebermuth in mir, und ein spöttisches Lächeln kräuselte meine Lippen, als ich in den Knopflöchern des einfachen Oberrocks des Fremden, wie zur Schau ausgestellt, mehrere Ordensbändchen schimmern sah.

„Sie scheinen wohl ein Schulmeister zu sein, da Sie so vortrefflich zu hofmeistern verstehen!“ sagte ich mit nicht zu verkennender Ironie.

„So etwas der Art, mein Fräulein,“ antwortete lächelnd der Fremde, ohne seinen Gleichmuth zu verlieren, „und mein Wunsch wäre nur, Sie zur Schülerin zu besitzen.“

„Ein Wunsch, den ich keineswegs theile,“ versetzte ich kühl.

„Das glaube ich gern, denn ich wäre ein strenger Lehrer, welcher Ihr wahres Talent nicht mit übel angewandter Lobhudelei ersticken, sondern Ihre Fehler an den Tag legen würde, um sie zu bessern.“

„Welch ein Bär!“ dachte ich halblaut, starr vor Entsetzen über solch kühne Offenheit.

„Sie haben den richtigen Ausdruck für meine Benennung getroffen, mein Fräulein, ich bin wirklich ein halber Bär,“ sagte der Fremde, heiter gelaunt über meine halblaute Bemerkung.

„Und das berechtigt Sie wohl auch, mit mir überhaupt zu reden, wie mir scheint,“ antwortete ich hochmüthig.

„Ich entdeckte in Ihrem Anschlag außergewöhnliches Talent, mein Fräulein, und das allein erweckte in mir den Wunsch, Sie anzureden,“ sagte der Fremde, und in seinem Ton lag eine leise Unzufriedenheit. „Uebrigens,“ fuhr er fort, „wollen Sie mir vielleicht die Freude machen, das letzte Adagio nochmals zu spielen, ich bin überzeugt, Sie werden jetzt den richtigen Ausdruck gefunden haben.“

„Ich bin nicht gewohnt, vor fremdem Auditorium mich zu produciren,“ entgegnete ich hochfahrend, „und will das gern Ihnen überlassen, der Sie ja wahrscheinlich an Kritik mehr gewöhnt sind, weil Sie selbst so vortrefflich diese Aufgabe zu lösen verstehen.“

Mit diesen Worten stand ich von meinem Platze auf und wies mit einer höhnischen Verbeugung auf das von mir verlassene Tabouret vor dem Clavier.

„Sie haben Recht, mein Fräulein,“ antwortete der Fremde, und eine tiefe Wehmuth lag in dem Ton seiner Stimme, „ich bin gewöhnt, dem vielköpfigen Ungeheuer der öffentlichen Meinung kampfgerüstet gegenüber zu stehen, und eben deshalb bitte ich Sie auch, jetzt Gleiches mit Gleichem zu vergelten, meine Auffassung der Hugenotten anzuhören und mir meine Fehler in derselben eben so offen und unumwunden sagen zu wollen, wie ich es mir bei Ihnen erlaubte.“

Der Fremde setzte sich hiermit an das alte, verstimmte Clavier und berührte die Tasten.

War es nun meine Eitelkeit, die mir zuflüsterte, des Fremden Eigendünkel mit eben solchem Tadel zu begegnen, die mich von der Thür zum Nebenzimmer umkehren ließ? – Gewiß war, daß ich stehen blieb, und mich im Stillen freute, die zu erwartenden Fehler des Fremden streng zu rügen, denn was konnte wohl ein so einfältiger Schullehrer in dem herrlichen Tonwerk der „Hugenotten“ leisten, dachte ich bei mir.

Doch was war Das? Was hörte ich da plötzlich? Der Fremde schlug mit vollen Tönen an. Die Accorde schwollen mehr und mehr zu symphonischen Weisen an, das verstimmte Register schien unter diesen Händen seine einstige Harmonie wieder zu erhalten!

Erstaunt sah ich auf den Fremdling, dessen Finger dem unscheinbaren Instrumente solche Töne entlocken konnten! Tieftraurig und grollend entstieg den Tasten die Klage der verrathenen Hugenotten, ängstlich, geisterhaft deren Ruf nach Hülfe. Immer kühner und gewaltiger gelangten die Phantasien zum Ausdruck. Stürmisch, leidenschaftlich und immer drängender, von seinem Glaubenseifer fortgerissen, trat die markige Erscheinung Marcel’s vor das geistige Auge, während Valentinens Liebesleid, sich in den zartesten Tönen auflösend, alle Dissonanzen versöhnte.

Unwillkürlich erlag ich dem Banne dieses phantastischen Spieles. So, ja so hatte ich mir die Schöpfung der Hugenotten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_210.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)