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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 14.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Wahrsagerin.


Von Alfred Pförtner.


An einem trüben Februarmorgen vorigen Jahres ward ich, da meine Kopfwunde ziemlich geheilt war, aus dem Mainzer Lazareth entlassen und begab mich mit militärischem Urlaub in meine Heimath Berlin, um meinen noch angegriffenen Körper mütterlicher Pflege anzuvertrauen und neue Kräfte zu sammeln, ehe ich zum Regimente nach Frankreich zurückkehrte. Der Hausarzt verordnete mir vor allen Dingen Ruhe und gestattete mir täglich nur eine Stunde auszugehn. Das behagte mir in den ersten Tagen ganz wohl; dann aber begann mich die Langeweile zu plagen, zumal die meisten meiner Bekannten jenseit des Rheins waren, und also fast jeder Freundesbesuch, der mir die Zeit hätte kürzen können, ausblieb. Mißmuthig lag ich eines Vormittags auf dem Sopha und studirte gähnend die endlosen Beilagen der „Vossischen Zeitung“: erst die Familienanzeigen, in denen sachgemäß auch die Verlobungen, die Vermählungen, dann die Entbindungen und schließlich, weil nichts mehr übrig bleibt, die Todesfälle folgen; hieran schlossen sich die Ankündigungen öffentlicher Vergnügungen, daran die Course, Notizen über verlorene und gefundene Gegenstände, und so hatte ich mich schließlich zu den „Personen, die eine Beschäftigung suchen“ durchgearbeitet. Diese interessirten mich eigentlich am wenigsten, obwohl ich, genau genommen, selbst zu ihnen gehörte, als mein gleichgültiger Blick durch die folgende Annonce gefesselt ward: „Eine zuverlässige Wahrsagerin, die aus der Hand, aus Karten und aus Kaffeegrund prophezeit, und deren Vorherverkündigungen stets eintreffen, wohnt Rosengasse Nr. 52 zwei Treppen hoch und ist täglich von Morgens neun Uhr bis Nachmittags fünf Uhr in Geschäftsangelegenheiten zu sprechen.“ Hinterdrein folgten noch drei oder vier Inserate ähnlichen Inhalts. Lachend las ich dieselben meiner Mutter vor, die Liebessocken strickend am Fenster saß; aber sie verrieth keine Verwunderung, da ihr die Sache längst nicht mehr neu war. Sie belehrte mich vielmehr, daß seit dem Beginn des Krieges, der ja immer den Aberglauben befördere, diese neue Geschäftsbranche en vogue sei, zumal gerade die besseren oder vielmehr die wohlhabenderen Stände derselben ihre Gunst zugewandt hätten. Einzelne dieser Wahrsagerinnen erfreuten sich, versicherte meine Mutter, solchen Zuspruchs, daß oft gleichzeitig mehrere Equipagen vor ihren Häusern hielten.

Die Neugier reizte mich, und ich äußerte die Absicht, eine jener Damen zu besuchen, um mir die Zeit zu vertreiben.

„Du brauchst nicht weit zu gehen,“ erwiderte meine Mutter, „wenige Häuser von uns entfernt wohnt eine der angesehensten ihres Faches; biege um die nächste Straßenecke links und steige im dritten Hause zwei Treppen hoch: da findest Du die neue Pythia.“

Ich kleidete mich an und ging hin. Es war ein sogenanntes „herrschaftliches“ Haus, das mir der Portier auf einen Zug mit der Hausglocke öffnete. Flur und Treppen waren mit Teppichen belegt, das Geländer der letzteren von Mahagoniholz; auf den Simsen der buntfarbigen Fenster standen hohe, frischgrünende Dracänen und Farren. Als ich zwei Treppen hinaufgestiegen, zog ich die Glocke vor einem Entreezimmer, das durch eine Glaswand vom Flur abgeschlossen war; ich bemerkte nichts Auffälliges, als daß auf dem Porcellanschilde unter dem Glockenzuge kein Name geschrieben stand. Eine ältliche Dienerin, deren Gesicht mir merkwürdiger Weise bekannt erschien, ohne daß ich mich doch besinnen konnte, wo ich es gesehen, öffnete und führte mich, als ich mein Begehren ausgesprochen, in ein mäßig großes, elegant ausgestattetes Zimmer, dessen innere Einrichtung von dem gewählten Geschmack der Besitzerin zeugte. Ich hatte kaum Zeit gehabt mich genauer umzuschauen, als sich eine Seitenthür öffnete, und eine schlanke Dame von etwa dreißig Jahren in einfachem, aber modischem schwerseidenem Kleide hereintrat. Ich sah sie einen Augenblick an und – stand sprachlos vor Erstaunen. Kannte ich doch diese majestätische Gestalt, dieses feine, aristokratische Antlitz, diese großen dunklen Augen, deren seelenvollen Blick Niemand, der ihn einmal im Leben geschaut, vergessen konnte.

„Sie sind –“ stammelte ich.

„Leopoldine von Krey,“ erwiderte die Dame, über deren blasses Angesicht eine helle Röthe flog, während um den feingeschnittenen Mund der Ausdruck bittern Schmerzes zuckte. Sie warf sich in einen Fauteuil und bedeckte ihr Gesicht mit den zarten, weißen Händen, während sie tief aufathmete und schluchzte. Aber fast eben so schnell, als dieser Ausbruch inneren Leidens über sie gekommen war, ermannte sie sich, richtete sich auf und sagte, während sie sich mit dem Tuche die Augen trocknete:

„Entschuldigen Sie, Herr Assessor, die Heftigkeit meiner Bewegung, die durch Ihr plötzliches und unerwartetes Erscheinen hervorgerufen ward – bitte, nehmen Sie Platz!“

Ich setzte mich ihr gegenüber; ehe ich aber noch fragen konnte, begann sie gefaßt folgendermaßen:

„Ja, ich bin Leopoldine von Krey, jene einst so glücklich gepriesene, so hochgefeierte Tochter des Commerzienrathes Pohl,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_217.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)