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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

garottirt zu werden, laut aufschreien, ohne daß er doch dabei seine Augen von dem Siegespreise abzuwenden vermag? Spricht nicht der giftigste Neid aus den Augen des Staatshämorrhoidarius, der dem glücklichen Sieger zur Linken steht? Und der Sieger selbst, der mit dem Ausdruck halb der Freude, halb der Bitte auf den Schänken sieht, und mit beiden Händen nach dem von diesem in die Höhe gehaltenen Glase mit dem überschäumendem Tranke greift, – hört man nicht unter der kräftigen, ihn zurückreißenden Faust alle Nähte seines Gewandes krachen, während er in der Ansicht:

„Bock trinkt sich gut
Auch ohne Hut,“

letzteren ruhig in die Schänke fallen läßt?

Das sind Alles Typen, jeder mit seiner ganz besonderen Eigenart in die Erscheinung tretend und zwar so, daß dadurch der allgemeine Grundzug des Bildes, die komisch-leidenschaftliche Aufregung, nicht nur in keiner Weise verwischt wird, sondern vielmehr erst recht zur Geltung gelangt.

Verstärkt wird die Wirkung des Bildes noch durch die Meisterschaft, mit welcher der Künstler die darin zur Anschauung kommenden Contraste einander gegenüber zu stellen gewußt hat: dort die von einem einzigen Triebe wild bewegte Menge, hier die classische Ruhe des seiner Würde und der ganzen Wichtigkeit des Augenblicks bewußten altbairischen Hofbrauhausschenken, an dem eben jeder Zoll, die ganze Gestalt, die strammen Ständer, der breite Rücken, die stämmigen Arme, der Stiernacken, das ganze Gesicht, die Nase und der Bart, den Altbaiern und den Schenken zugleich repräsentiren.

Ziehen wir schließlich die Summe aus dem ganzen Bilde, so stellt es sich dar als die vollendete Versinnlichung schnödester Bierselbstsucht, wie sie in ihrer ganzen grotesken Komik am ersten Mai jedes Jahres um die elfte Stunde im Bockstall des Münchner Hofbrauhauses zu Tage tritt.

Es wird wohl nur selten Bilder geben, in denen die Idee und ihre künstlerische Ausführung sich so durchaus decken, wie in dieser Zeichnung Ludwig Bechstein’s, unseres Künstlers.

Mir hat es große Freude gemacht, daß er mich zum Interpreten seines Bildes gewünscht hat.

Arthur Müller.




Drei Jahre in einem preußischen Lehrerseminar.


Von Eduard Nitschke.


Es war in den letzten Februartagen des Jahres 1865. Soeben hatte das Amtsblatt der königlichen Regierung in ein kleines Dorf mit einer Präparandenanstalt die längst erwartete Nachricht gebracht, daß die Aufnahmeprüfung für das königliche Seminar zu M. im März stattfinden solle. Mit erneuerter Hast stürzten sich die zu Prüfenden auf die Bücher, welche das Maß abgaben für das von den preußischen Regulativen geforderte Wissen. Die verborgensten Winkel wurden aufgesucht, um die aus dem Schutt verflossener Jahrhunderte hervorgezogenen geistlosen, aber um so längeren Kirchenlieder, die Unzahl von biblischen Geschichten, Psalmen, Gleichnissen, Prophezeiungen, Evangelien, Episteln, Bibelsprüchen dem widerspenstigen Gedächtnisse einzuverleiben; denn Bibel- und Gesangbuchsfestigkeit waren das Haupterforderniß für die Befähigung zur Aufnahme in das Seminar.

Für die diesmalige Prüfung hatten sich neunundvierzig Präparanden gemeldet, von denen nur achtundzwanzig aufgenommen werden konnten. Das Jahr vorher betrug die Zahl der Prüflinge noch achtundsechszig; zwei Jahre später nur neunundzwanzig; die schlagendste Verurtheilung der damaligen Leitung der Unterrichtsangelegenheiten. Dazu versuchte die Regierung jedes, nur nicht das nächste Mittel, um junge Leute für das Schulfach zu gewinnen. Da alle frommen Verheißungen und Verweisungen auf den jenseitigen Lohn für das verdienstvolle Werk der Präparandenbildung bei den Lehrern vergeblich waren, bezahlte die Regierung endlich jede in das Seminar abgelieferte Seele dem Präparandenbildner mit zehn Thalern.

Trotz dieser lockenden Summe nahm die Zahl der Lehrer immer mehr ab; in einer einzigen Provinz Preußens sind noch jetzt an hundert Lehrerstellen unbesetzt; an manchen Orten sind einer einzigen schwachen Kraft zwei- bis dreihundert Kinder übergeben. Um diesem Nothstande wenigstens nominell abzuhelfen, wurden nach beendigter Präparandenprüfung einem Theil der jungen siebenzehnjährigen Leute, welche man für die Aufnahme in das Seminar als nicht genügend vorgebildet befunden hatte, nichtsdestoweniger sofort von dem anwesenden Schulrathe Hülfslehrerstellen übertragen.

M. ist ein kleiner Ort. Die Bürger desselben nähren sich meist vom Ackerbau und sind, wie auch in der Umgegend, der großen Mehrzahl nach streng katholisch. Man sieht hier eine Unzahl Kreuze und Capellen; in einer derselben befindet sich die Abbildung einer Heiligen, welche eine Sichel gen Himmel geworfen, die noch bis heute nicht auf die Erde zurückgefallen ist. In diese Stadt hatte man vor ungefähr zwölf Jahren die Leuchte protestantischer Orthodoxie verlegt, ein evangelisches Regulativ-Seminar.

Früher befand sich dasselbe in der Hauptstadt der Provinz. Die Seminaristen hatten Gelegenheit, Vorlesungen der dortigen Universität zu hören, die Schätze der Bildergalerien, Bibliotheken, Museen, des botanischen Gartens waren ihnen geöffnet, sogar Concerte und Theater durften sie besuchen. Die Folgen dieser Freiheit waren entsetzlich; die Seminaristen erdreisteten sich einmal, über ihren „Herrn Director“ bei der Regierung Beschwerde zu führen, weil er seine „theuren Zöglinge“ mit dem väterlichen Du beehrte und Löcher in die Thüren der Arbeitszimmer schneiden ließ, um dieselben stets belauschen zu können. Bei der Untersuchung seitens der Regierung stellte sich neben manchen anderen Ungehörigkeiten auch heraus, daß der fromme Seminardirector, um sein glänzendes, unsittliches Leben fortführen zu können, die ihm anvertraute Casse bestohlen hatte.

Da man nicht den Mantel der christlichen Liebe um die öffentlich gewordene Thatsache hängen konnte, sandte man diesen „Seminardirector“ nach einer Festung, in der er einen strenggläubigen Katechismus schrieb. Dann aber beförderten ihn seine frommen Freunde nach Amerika, damit er als Missionär den Indianern sein Christenthum verkünde. Das großstädtische Seminar wurde kurz vor 1848 geschlossen; man verlegte es nach einem ganz kleinen Städtchen; und als dieses Eisenbahnstation wurde, suchte man lange nach einem Orte, wohin sich ein solcher Culturfortschritt nicht verirren würde. Endlich fand sich ein Krähwinkel, wo weder Kunstgenüsse noch liberale Zeitungen und Universitätswissen die Frömmigkeit gefährdeten und wo aus Mangel an gebildeten Evangelischen auch kein gottloser Protestantenverein entstehen konnte: das ultramontan-katholische M. wurde mit dem evangelischen Seminar beschenkt.

Das Seminargebäude ist ein großartiger Rohbau mit zwei hervorspringenden Flügeln, in dessen sich die Wohnungen der Seminarlehrer befinden. Die Lehrsäle liegen auf die Straße, die Arbeitszimmer der Seminaristen auf den Hof hinaus. Im zweiten Stock befinden sich die Räume für die Kleiderschränke und zwei Schlafsäle. Der wichtigste Theil und Mittelpunkt des Seminars ist der reich geschmückte Betsaal.

Wir schlafen die erste Nacht im großen Schlafsaale des Seminars. Die älteren Bewohner dieses Salons lassen ein durch alle Dur- und Molltonarten variirendes Schnarchen hören; wir Neulinge werfen uns auf dem Lager ruhelos umher.

Kaum hat uns ein freundlicher Traum die Bilder der Heimath vorgezaubert, so hören wir schon die Thür des Schlafsaal-Corridors aufschließen (Seminaristen sind auch in der Nacht eingesperrt), schwere Tritte nahen sich. Es ist fünf Uhr, und das Seminarglöcklein läßt seine dünnen Töne in die Dunkelheit hinausschallen. Dann kommt der Portier und befestigt mit der Linken die dunkle Schatten werfende Laterne an einem Haken in der Mitte des Saales, mit der andern Hand schwingt er eine riesige Schelle. Schlaftrunken fahren wir empor und greifen nach den unentbehrlichsten Kleidungsstücken am Rechen des Bettes. Binnen zwei Minuten müssen wir angekleidet sein. Schon tritt ein neuer Wächter des christlichen Hauses auf, der gestrenge Herr Hülfslehrer, der aber uns während der Nacht in unserm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_243.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)