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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Am Altar.


Von E. Werner, Verfasser von „Ein Held der Feder“.


(Fortsetzung.)


Bruno nahm diese seltsame, aus Sottisen und Complimenten gemischte Begrüßung der ihm ganz unbekannten Dame mit sichtbarer Befremdung auf. Er verneigte sich schweigend, ohne Erwiderung und näherte sich dann dem jungen Mädchen.

„Ich habe versprochen, Ihnen den Bruder frei zurückzugeben, Lucie – hier ist er!“

Franziska, die noch ziemlich entrüstet dastand ob dieser kühlen Aufnahme der Versicherung ihres Wohlwollens, fuhr jetzt plötzlich mit dem Ausdrucke grenzenlosen Erstaunens herum. Dies „Lucie“, mit dem man ihren Zögling zu tituliren wagte, und das glühende Erröthen desselben brachte sie ganz und gar aus der Fassung. Bernhard beugte sich forschend zu seiner Schwester nieder.

„Ich wußte nicht, daß ich Deinem Vorgehen allein meine Rettung danke, Lucie! Du suchtest Bruno aus und bestimmtest ihn zum Handeln, und ich ahnte kaum, daß Ihr Euch überhaupt kanntet.“

Das junge Mädchen gab keine Antwort, sie sah zu Boden, an ihrer Stelle aber nahm jetzt Bruno das Wort.

„Ich möchte Sie bitten, Herr Günther, mir noch eine Unterredung mit Ihrer Schwester allein zu gestatten. Sie brauchen den Ausgang derselben nicht zu fürchten. Lucie hat von jeher so vor mir gezittert, daß sie aufathmen wird bei der Nachricht von meiner Entfernung aus der Gegend und aus dem Lande überhaupt.“

Sie klangen wieder sehr bitter, diese letzten Worte; aber Lucie war erbleichend aufgefahren, als er von seiner „Entfernung“ sprach, und ihr Antlitz verrieth einen so tödtlichen Schrecken, eine so angstvolle Frage, daß Bernhard auch über sie nicht länger mehr im Zweifel war, als er mit einer bejahenden Bewegung ihre Hände losließ.

„Was ist denn das?“ fragte Franziska, die noch immer starr vor Staunen dastand, halblaut, während Bruno dem jungen Mädchen in’s Nebenzimmer folgte.

„Etwas, das selbst Sie mit all Ihrer Klugheit nicht herausgefunden haben!“ sagte Günther lakonisch, indem er die Thür hinter den Beiden schloß, „aber beruhigen Sie sich, Franziska, ich hatte auch keine Ahnung davon, und Lucie hat sich in der ganzen Sache von Anfang an so eigenmächtig benommen, daß ich ihr auch wohl die schließliche Entscheidung allein überlassen muß. Das ‚Kind‘, das wir Beide für so unmündig hielten, hat uns einen argen Streich gespielt. Es wußte mehr zu tragen und zu verschweigen und im gegebenen Momente richtiger zu handeln, als wir Alle zusammen. Wir wollen jetzt abwarten, ob die Unterredung drinnen wirklich nur mit einem Lebewohl endigt oder mit etwas Anderm. Ich fürchte ganz entschieden das Letztere!“ –

Bruno war inzwischen, als er die Thür geschlossen sah, rasch auf das junge Mädchen zugetreten.

„Ich habe noch eine Frage an Sie, Lucie, die Sie mir beantworten müssen, ehe ich gehe, denn noch liegt für mich ein räthselhaftes Dunkel auf Ihrem Eingreifen in das Drama, das soeben sein Ende erreicht hat. Wer wies Sie vorgestern zu mir? Sie wußten damals bereits, was alle Welt nur ahnte, daß Graf Rhaneck gemordet war, wußten, daß nur mein Zeugniß allein Ihren Bruder befreien konnte, und doch ist das Geheimniß nur einmal über meine Lippen gekommen, dem Prälaten gegenüber. Außer dem Prior und uns Beiden konnte es Niemand wissen – wer hat es Ihnen verrathen?“

Lucie hob zaghaft das Auge zu ihm empor; es lag wieder eine tiefe Blässe auf dem lieblichen Gesichte, als sie zögernd entgegnete:

„Ich wußte nichts, ich ahnte nur, und Gott sei gedankt, daß die Ahnung mich trog! Ich fürchtete ja eine andere schrecklichere Lösung – ich glaubte, Sie müßten sich selber opfern, um Bernhard zu retten.“

Bruno trat betroffen einen Schritt zurück. „Mich selbst? Das heißt also, Sie hielten mich für den Schuldigen?“

Das junge Mädchen gab keine Antwort, sondern senkte nur schuldbewußt das Haupt.

„Ich muß doch wohl etwas vom Mörder an mir haben!“ sagte er bitter. „Auch Graf Rhaneck hegte den gleichen Argwohn. Darum also bebten Sie so entsetzt zurück, als meine Hand es wagte, Sie zu berühren? Freilich in Ihren Augen war sie ja voll Blut!“

„O, Sie sahen so entsetzlich aus, als Sie damals in der Kirche von mir gingen!“ Luciens Stimme bebte wieder bei der Erinnerung an jene Stunden. „Ich konnte Ihren Blick, Ihren Ton nicht vergessen! und gleich darauf fiel der Graf, fiel auf Ihrem Wege, und dann – das Zusammentreffen aller Umstände, Ihr räthselhaftes Schweigen – wenn Sie gewußt hätten, was damals auf Ihrer Stirn geschrieben stand, als Sie mich verließen! Sie würden mich nicht schelten wegen eines Irrthums, den ich selbst am schwersten gebüßt habe!“

Sie grub sich auch jetzt wieder in seine Stirn, die drohende Falte, welche sie damals so erschreckt hatte. Die ganze Härte und Verschlossenheit des jungen Mannes schien zurückgekehrt, als er finster, halb abgewendet von ihr dastand, als könne er den Verdacht nicht verzeihen; aber als sich Lucie nun an seine Seite stahl und er seinen Namen zum ersten Male von ihren Lippen vernahm, als dies leise bittende „Bruno!“ sein Ohr berührte und ihre Augen zu ihm aufblickten, da löste sich jene Falte, der herbe Zug verschwand, und das ganze Antlitz verlor seinen Ausdruck düsterer Erbitterung, als habe eine Hand glättend und besänftigend darüber hingestrichen. Diese blauen Augen waren vielleicht das Einzige auf Erden, was Macht hatte über diese starre Natur, aber sie waren hier auch allmächtig.

„Das Verbrechen galt mir, Lucie!“ sagte er leise. „Ich war das auserkorene Opfer! Die dämmernde Schlucht führte die mörderische Hand irre und die Aehnlichkeit unserer Gestalt, der dunkle Mantel, den wir Beide trugen, wurden dem Grafen zum Verhängniß. Es war die Stunde und der Moment, wo ich die Kluft passiren mußte; wäre ich zur gewöhnlichen Zeit gegangen, hätte ich Ottfried überholt, nur um Minuten vielleicht, ich wäre an seiner Statt gefallen. Was mich in der Kirche zurückhielt, was mich rettete –“

„Ich weiß es!“ unterbrach ihn Lucie kaum hörbar. Sie wußte es freilich, jenes glühende leidenschaftliche Geständniß seiner Liebe, das allein ihm zur Rettung geworden, es war ja während der ganzen Zeit nicht einen Moment lang aus ihrer Erinnerung gewichen.

„Ich erreichte die Brücke in dem Momente, wo der Graf hinabgestürzt ward!“ fuhr er gepreßt fort. „Zu spät, um den Mord zu verhindern, und früh genug, um den Mörder noch zu erkennen, der sich beim Nahen meiner Schritte zur Flucht wandte. Es war keine Zeit, ihm zu folgen und ihn zur Rede zu stellen; ich rief die Nächstwohnenden herbei, um mit ihnen in die Schlucht einzudringen. Die Hülfe kam zu spät, ich wußte es, aber sie mußte doch wenigstens versucht werden, und ihr mußte alles Andere nachstehen. Am nächsten Tage erfuhr der Prälat aus meinem Munde, was ihm kein Geheimniß mehr sein konnte, denn ich war auch nicht einen Augenblick im Zweifel darüber gewesen, wer statt seines Neffen gemeint war. Er befahl mir zu schweigen mit dem Hinweis darauf, daß hier doch nichts mehr zu retten sei; noch einmal, zum letzten Male, schlug er mich in die Fesseln des blinden Gehorsams, und ich gehorchte ihm bis zu dem Augenblicke, wo ich durch Sie erfuhr, was auf dem Spiele stand.“

Bruno athmete tief auf und sein Antlitz verdüsterte sich wieder, während das junge Mädchen in athemloser Spannung seinen Worten zuhörte.

„Man wollte mich auch jetzt noch zum Schweigen zwingen!“ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Hören Sie, Lucie? auch jetzt noch! Und mit dieser schmachvollen Zumuthung riß denn endlich das letzte Band entzwei, mit dem mich Gewohnheit und Erziehung an Jene dort knüpften. Wir sind fertig mit einander! Sie werden mir den Wortbrüchigen, den Meineidigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_254.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)