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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Auch ein „Lied von braven Männern“.


Die ostfriesische Insel Borkum, zwischen der Wester- und Osterems gelegen, dehnt sich in einer Länge von drei Stunden und einer Breite von dreiviertel Stunden aus, und ist von fünfhundert Einwohnern, welche sich mit Fischerei, Viehzucht und Schifffahrt beschäftigen, bewohnt.

Von ihrer höchsten Düne, der Königsdüne, aus gesehen bietet die Insel eins der anmuthigsten Bilder unseres Nordseestrandes, denn mit Ausnahme der in weiter Ferne liegenden kleinen Vogelinsel Rottum, deren ganzer Strand zur Brütezeit mit Tausenden brütender Vögel bedeckt ist, sieht man die Insel von den hochschäumenden Meereswogen umrahmt, die mit ihrem tief grollenden Getöse einen jeden Beschauer mit Bewunderung erfüllen. Am fernen Horizonte tauchen die Masten großer Schiffe auf, und nähern sich so dem Strande, daß man mit unbewaffnetem Auge ihre verschiedenen Segel erkennen kann, dazwischen wirbeln die Dampfwolken der Dampfschiffe empor, und an den Segelschiffen vorübereilend, scheint Alles in einem Wettkampf begriffen, um auf der dahin führenden Fahrstraße von England die reiche holländische Küste zu erreichen. Aber gleich einer Oase in dem großen Sandmeere liegt, von den weißgekräuselten Wellen umzogen, die Insel mit ihren saftig grünen Wiesen, auf denen Herden schöner Kühe und Schafe weiden und die schmucken Häuser, von dem hohen Leuchtthurm überragt, freundlich hervorblicken; nur an der Nordwestseite der Insel steigen zwei thurmähnliche, eine Viertelstunde von einander stehende hohe Mauerwerke unheimlich in die Höhe, welche von einem liegenden schwarzen eisernen Kreuze gekrönt sind – es sind dies die beiden Caps, den vorüberfahrenden Schiffern ein Warnungszeichen, daß zwischen ihnen das so manchem Schiff Verderben bringende „Borkumer Riff“ liegt.

Der Morgen des 22. September vorigen Jahres versprach einer jener schönen Herbsttage zu werden, die mit ihrer sonnenklaren Luft die Erinnerung an den erfrischenden Morgen des entschwundenen Sommers wach rufen.

Die Sonne schien wohlthuend warm hernieder, ein weicher Luftzug wehte mild von der mit leichten Wellen bewegten See, die Segel der vorüberziehenden Schiffe, deren Wimpel lustig in der Luft flatterten, blähten sich stolz bei der kleinen Brise, in den Wellen tauchte ein großer Zug Delphine auf und nieder, die Möven und Seeschwalben schaukelten sich auf dem grünen Meereselement, und längs des Strandes und in den Dünen wanderten Fremde aus allen Gegenden, um bei dem lieblichen Wetter die stärkende Seeluft wie den großartigen Eindruck des vom blauen Himmel begrenzten Meeres zu genießen.

Gegen Mittag stiegen einzelne kleine weiße Wölkchen an dem bis dahin gleichmäßig blauen Himmel auf, und mit ihnen stellte sich eine kräftigere Brise ein, die die Wellen mit der inzwischen eingetretenen Fluth in rascherer Folge am Strande sich brechen ließ. Bald folgten diesen kleinen, noch von den Sonnenstrahlen hellerleuchteten Wölkchen dunklere, die in raschem Fluge dahinzogen, und so wild und schnell an einander vorüberjagten, daß in kurzer Zeit die Alles erfreuenden Sonnenstrahlen verschwunden und der Himmel in ein düsteres Grau gehüllt war.

Aber auch auf der ruhigen See hatte sich inzwischen das Bild in gleicher Weise geändert. Der Wind war in einen heftigen Sturm übergegangen, die Wogen des Meeres thürmten sich gigantisch in die Höhe, und schleuderten, am Strande sich brechend, den weißen Schaum weit in die Dünen hinein, die Möven jagten schreiend durch die brausenden Lüfte, während die auf der See befindlichen Schiffe kahl, mit eingerefften Segeln zwischen den hohen Wellen auf und niedertauchten.

Am Strande selbst war der Sturm so fürchterlich, daß ein Stehenbleiben unmöglich war, dabei wirbelte er den feinen Sand vom Meeresstrand und den Dünen mit einer solchen Gewalt umher, daß man nicht sorgsam und schnell genug das Gesicht gegen diese wie mit scharfen Schloßen gefüllte Luft zu schützen vermochte, und die das großartige Bild des eingetretenen Seesturms bewundernden Gruppen der Badegäste sich zu einer raschen Flucht in ihre Wohnungen gezwungen sahen.

In den Dünen, und besonders auf der Königsdüne hatten sich aber andere Gruppen gesammelt. Dort lagen in der geschützten Vertiefung ausgestreckt, den getheerten Schiffshut fest um den Kopf gebunden, das lange Fernrohr am Auge, die kräftigen wettergebräunten Gestalten der Rettungsstation, mit prüfendem Blick die auftauchenden Schiffe verfolgend, um sofort rettend zur Hand zu sein, wenn ein Schiff in Gefahr kommen sollte.

Plötzlich tritt in der still beobachtenden Gruppe eine Bewegung ein, alle Gläser sind auf das eine Schiff gerichtet, bis der unter ihnen befindliche Capitän mit Bestimmtheit erklärt: „Die Brigg ist verloren, sie muß auf dem Riff festfahren!“ – Die Brigg, ein Zweimaster, ragt mit ihren beiden Masten unverändert aus den Meereswogen empor, ohne daß sich irgend welches Zeichen einer Bewegung an ihr wahrnehmen ließe. Dagegen wird der eine Mast nach seiner Spitze zu sichtbar stärker, und man erkennt durch das Fernrohr, daß dies die sich rettende Mannschaft ist.

Die Kunde von der Strandung eines Schiffes hatte sich rasch im Dorfe verbreitet, und bald sah man Frauen und Kinder trotz des fürchterlichen Sturmwindes sich durch die Dünen drücken, um sich selbst von dem Unglück zu überzeugen. Dort hinter ihren Versorgern niedergekauert, horchen die Frauen ängstlich auf deren Beobachtungen und Kundgebungen, die alle darin übereinstimmen: das Schiff sitzt vollständig fest, eine Rettung ist nicht mehr möglich; und schon sieht man das stets bereitliegende Lootsenschiff seinen Cours nach dem gestrandeten Schiff nehmen. Der Capitän am Lande hat nochmals das gestrandete Schiff geprüft und sich überzeugt, daß schnelle Hülfe nöthig ist, auf sein Zeichen erheben sich die Gestalten aus ihrem Dünensandlager, schreiten, dem Sturmwind trotzend, hinab nach dem Rettungsstationshaus, um ihren mit einer Korkwand umzogenen Rettungskahn herauszuziehen, und ihr Leben für die Rettung der Gescheiterten zu wagen. Mit sorgenvollem Blick folgen die Augen der Frauen dem scheidenden Ernährer ihrer Familie, indessen die rothwangigen Kinder die Gefahren nicht kennend mit Freuden dem Vater nachschauen, der im kleinen Rettungsboot seinen Sitz eingenommen. Da wälzt sich eine mächtige Woge nach dem Rettungsboot, und hebt es in die Höhe, zu gleicher Zeit schlagen aber auch die Ruder der zwölf Mann kräftig in die Fluth, der Capitän hat das Steuer fest gefaßt, und muthig bricht sich das Boot Bahn in die stürmende See. Bald ist es zwischen den hohen schäumenden Meereswogen verschwunden, in weiter Ferne sieht man es wieder auf dem Rücken einer mächtigen Woge getragen, bis es im andern Augenblick abermals den ihm mit banger Sorge folgenden Blicken entschwunden ist.

Während dem ist der schnellsegelnde Lootsenkutter bereits in der Nähe des gestrandeten Schiffes angekommen, umfährt es in einem weiten Bogen und entfernt sich in der Richtung nach dem Rettungsboot, ohne angelegt zu haben. Zwei lange, lange Stunden vergehen, da sehen die zurückgebliebenen Frauen das Rettungsboot im Schlepptau des Lootsenschiffs wieder auflaufen, nicht mehr weit vom rettenden Strande läßt es sein Tau, und von Woge zu Woge getragen, legt es unversehrt an seinem Stationsort an. Alles eilt ihm entgegen, um Kunde von den Geretteten zu haben, aber nur die Mannschaft steigt aus dem rettungverheißenden Boot und bringt die traurige Nachricht, daß vier Mann noch in dem einen Mast sich befinden, aber bei der fürchterlichen Brandung am Riff und den wilden Wogen sei ein Anlegen und eine Rettung unmöglich gewesen.

So mußten die armen vier Unglücklichen, an den schwankenden Mast geklammert, von den unter ihnen sich brechenden zerstörenden Wellen umtost, die ihnen so nahe geglaubte Rettung wieder verschwinden sehen.

Der Abend brach herein, immer furchtbarer heulte der Sturmwind mit dem tiefen Getose der sich brechenden Meereswellen, der Leuchtthurm warf sein Licht weit hinaus in die finstere Nacht, verkündete den armen Unglücklichen den rettungbringenden nahen Strand und gab ihnen dadurch Muth, trotz des schrecklichen Sturmes und des unter ihnen gähnenden Grabes die lange schauervolle Nacht auszuharren, bis mit dem sehnlichst erwarteten Morgen der Sturm sich gelegt und Hülfe und Erlösung ihnen gebracht werden könnte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_259.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)