Seite:Die Gartenlaube (1872) 266.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Höhe der Aufgabe der Volksschulen zu stellen vermögen. Beides kommt vor und ist eine Quelle von schädlichen Einflüssen, die bisher mehr dumpf empfunden als klar erkannt wurden.

Richten wir zunächst das Augenmerk auf die Gesangdisciplin der höheren Schulen. Sie war ehedem von culturgeschichtlicher Bedeutung und stellte dem Lehrer die schwierigste Aufgabe.

Wie steht es heute mit dieser Disciplin? – Wer an diesen Anstalten irgend ein anderes Fach lehren will, muß zuvor den Nachweis führen, daß er in diesem sich auch Kenntnisse erworben hat. Nur beim Gesange ist man nicht so prätentiös. Ob ein Lehrer die Stimme kennt, die er behandeln und erziehen soll, wer fragt danach? wer prüft sein Wissen nach dieser Seite hin? wer beurtheilt, ob er der den höhern Schulen unfehlbar zustehenden Aufgabe, durch correcten Chorgesang auch auf die ästhetische Bildung der Schüler günstig einzuwirken, im ganzen Umfange gewachsen ist? und wenn Untüchtigkeit schädliche Einflüsse herbeiführt, wer erkennt und beurtheilt diese, wer schützt die Jugend? –

Auf all diese Fragen giebt es zur Zeit keine irgend befriedigende Antwort. – Thatsache ist, daß unter den obwaltenden Umständen oft Leute des alleroberflächlichsten Musikdilettantismus und ohne eine Ahnung von dem, was die Aufgabe fordert, zu Gymnasialgesanglehrerstellen gelangen, und daß unsere Jugend diesen Uebelstand oft mit Verlust des Wohllautes der Stimme und mit schlimmern Folgen für die Gesundheit zu bezahlen hat. – Fragt man ferner, auf die Sache specieller eingehend, wie hier oder dort unterrichtet wird, so ergiebt sich sehr planlos Verworrenes. Hier singt man in den untern Classen Liedchen nach der Lehrmethode der Elementarschulen, während das obere Classenziel vom Singen befreit; dort singt man zwar in obern und untern Classen, allein die Männerstimmen von den Knabenstimmen gesondert. Zu gemischt-chörigen Gesängen, mit denen die höhere Aufgabe dieser Schulen überhaupt erst möglich wird, kommt es in beiden Fällen gar nicht; wohl aber wird durch die mit dem Männergesange unvermeidliche Anwendung hoher Stimmlagen der Schädlichkeit des Gesanges für Jünglingsstimmen das Privilegium ertheilt. – Bisweilen ist wohl auch die Theilnahme am Gesange dem Belieben der Schüler anheim gestellt, und ich kenne sogar einen Fall, wo der Anstaltsdirector seinen Schülern das jungen Stimmen aller Kategorien stets verderblich werdende Mitsingen in öffentlichen Gesangvereinen nur dann noch ferner gestatten wollte, wenn sie auch die Schulsingestunde besuchten.

Als Pendant zu dieser die Singestunde als Strafstunde zeichnenden Anordnung paßt folgende Aeußerung eines Gymnasiallehrers, den ich im Bade Salzbrunn kennen lernte. Als wir eines Tages in der schattigen Brunnenallee uns befanden, erhielt ich auf die Frage: „wie steht es mit dem Gesange in Ihrer Anstalt?“ – wörtlich folgende Antwort: „Den ertheilt ein Elementarlehrer. Mit dem Gesange ist ja auf Gymnasien überhaupt nicht viel zu machen. In Sexta und Quinta, da singen die Jungen wohl noch, in Quarta und Tertia bricht schon die Stimme, in Secunda und Prima wird sie vom Bier und Tabak erst vollends verdorben.“ Mein Begleiter war sichtlich überrascht, von mir ganz entgegengesetzte Dinge zu vernehmen: wie ein Gymnasium eine wahre Goldgrube des Kunstgesanges sei, deren Ausbeute man früher sehr wohl verstanden habe; wie unendlich viel Gutes und Edles hier gefördert werden könne, ohne das übliche Stundenmaß zu überschreiten; wie empfänglich, dankbar und hingebend die Jugend alsdann für diese Disciplin sei, aber auch welche Gefahren ungeschickte Gesangbehandlung mit sich führe etc.

Das waren meinem Begleiter neue, aber wohl einleuchtende Dinge und er antwortete vollkommen zutreffend: „Ja freilich, das kommt alles auf die Persönlichkeit des Lehrers an.“

Während dieses Gespräches schlich ein bleicher Zeuge für meine Anklage, ein Opfer mißhandelten Gesanges, stumm grüßend an uns vorüber. Es war ein katholischer Landschullehrer aus Oberschlesien. Er hatte mir sein Unglück in herzzerreißender Weise geklagt. Aus übergroßem Eifer, seiner Kirche zu dienen, hatte er zur Messe längere Zeit wegen Mangels eines Tenoristen auch die Tenorsoli gesungen, und seine Baritonstimme zu unnatürlich hohen Tonlagen hinauf zwingen müssen. Seit drei Jahren war er bereits in Folge dessen kehlkopfskrank, sein Lehramt zu versehen war ihm schon in letzter Zeit nicht mehr möglich gewesen, schon schwebte er in der Sorge, daß, wenn auch diese Brunnencur nicht anschlage, er sein Amt verlieren und mit seiner Familie in Noth gerathen würde. Dazu schien leider alle Aussicht vorhanden zu sein.

Ich unterlasse es, aus meiner vieljährigen persönlichen Beobachtung und Erfahrung ähnliche Beispiele anzuführen; weiß ich doch, daß die Opfer des Gesangsmißbrauchs, in- wie außerhalb der Schulen, überall zu finden sind. Das Auffällige dieser Erscheinung wird ein Blick in die Vergangenheit erklären. Auf Gymnasien ist von jeher gesungen worden, da die ältesten Institute dieser Art mit Kirchen in Verbindung standen und diesen zu allen kirchlichen Functionen die Chöre stellten. An der Spitze solcher Chöre standen ehedem Männer von großer allgemeiner Bildung, innig vertraut mit den Geheimnissen der Stimmbehandlung und der Gesammtkunst des correcten, vocalen Tonsatzes. Das war z. B. der Fall an der Thomasschule zu Leipzig, die übrigens noch heute eins der würdigsten kirchlichen Chorinstitute Deutschlands ist. Mit dem Umschwunge des kirchlichen Lebens, der sich inzwischen vollzog, verloren viele solcher Stellen ihre frühere Bedeutung, – sie verarmten. Wo ehedem Künstler wirkten, mußten später Dilettanten aushelfen.

Diese Erbschaft traten auch die neueren Schulen an, die nie mit Kirchen in Verbindung standen. So nur konnte es geschehen, daß in den heutigen Berathungen über Gesundheitspflege der Schuljugend die heimtückische Seite des Gesanges übersehen wurde; daß kein Arzt auf den Gedanken gerieth, auch einmal statistisch zu ermitteln, wie viele liebe frische Kinderstimmen durch untüchtigen Schulgesang verletzt, wie vielen jungen Kehlen der Keim späteren Verderbens dadurch eingeimpft wurde.

Mit dem Gesangunterrichte in bürgerlichen Schulen steht es anders. Die musikalische Aufgabe dieser Institute ist, wie bereits angedeutet wurde, viel einfacher; sie besteht hauptsächlich im ein- und zweistimmigen Choral- und Liedergesange, der hier classenweise und in der Regel vom Classenlehrer selbst nach oft sehr verständigen Lehrplänen ertheilt wird. Die mit wenigen Ausnahmen vor dem Eintritte der Mannbarkeit hier zu Ende gehende Schulzeit ermöglicht diese Einrichtung, und die Seminarien sorgen dafür, daß die künftigen Lehrer eine für ihren Beruf ausreichende Musikbildung erlangen; wenn es mit Vorsicht geschieht, kann hier wohl auch durch Anwendung einer dreistimmigen Harmonie etc. für den Kunstgesang Vorbereitendes geschehen. Diese Vorsicht wird jedoch vielfach nicht beobachtet, vielmehr finden wir hier oft eine Neigung, die von der Natur so klar vorgezeichneten Grenzen dieser Schulen zu überschreiten und dadurch schädliche Einflüsse herbeizuführen. Die letzteren entstehen hauptsächlich durch Ueberanstrengung des Organs, und zwar durch Ausartung des Gesangs in Geschrei, wozu die Kinder nicht blos durch indiscrete Behandlung des Gesanges allein verleitet, sondern auch durch die ihnen zugemutheten Ueberschreitungen des natürlichen, das heißt leicht ansprechenden Umfanges ihrer Stimmen oft gezwungen werden, sowohl nach der Höhe als nach der Tiefe hin. Beides wirkt verderblich. Einen schädlichen Einfluß übt ferner die nicht rechtzeitige Inachtnahme der mit dem Wachsthum des Körpers sich schon vor dem Eintritte der Mannbarkeit vollziehenden Umwandlung des Stimmorgans, die bei den meisten Knaben sich über vier verschiedene Klangregionen erstreckt. Diese Stimmen sinken nämlich vom hohen Sopran zum Mezzosopran, von da in den Alt und zuletzt in den Contraalt, der vom Tenor, der hohen Männerstimme, nur um einzelne Töne noch entfernt ist.

Jede einzelne dieser Stimmwandlungen bietet für den Schiffbruch der Stimme, für die Beschädigung der Gesundheit Klippen und Gefahren, die durch verständigen Unterricht sehr wohl vermieden werden können.

Solche Vorgänge in der Stimme des einzelnen Schülers können selbst in einer zahlreich besuchten Classe vom Lehrer leicht wahrgenommen werden. Sobald nämlich manierlich gesungen und nicht geschrieen wird, hebt sich die einzelne Stimme, die tiefer wurde und der nunmehr durch zu hohes Singen Gewalt angethan wird, aus dem Chore ab und wirkt störend.

Auf solche Schmerzenslaute der Gewaltthat muß der Lehrer streng achten, den betreffenden Schüler sofort ermitteln und ihn einer tieferen Stimmkategorie einreihen. Die Gefahr ist dann beseitigt. Unmöglich aber wird diese Wahrnehmung, sobald der Schulgesang in Geschrei ausartet.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_266.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)