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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Die Zahl der nicht gemischt-chörigen Liederbücher für Schulen aller Art ist unübersehbar und wächst täglich. Das ist jedenfalls ein Zeichen großer Regsamkeit auf diesem Felde. Schade nur, daß man von diesen Liederbuchverfassern nicht auch immer sagen kann: „wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch den Verstand!“ Prüft man nämlich den Inhalt solcher Bücher lediglich nach ihrer musikalisch praktischen Seite hin, so wird man zunächst finden, daß die den jungen Stimmen stets Gefahr bringenden zu hohen Tonlagen in strotzender Fülle hier vorhanden sind.

Betrachtet man ferner die specifisch musikalische Behandlung solcher Bücher, also den Tonsatz derselben mit kritischem Auge, so gesellen sich zu den obigen Belastungszeugen der Unkenntniß des Schädlichen noch andere kräftige Mithelfer am Zerstörungswerke unserer Kinderstimmen. Da fehlt es an ausreichender Kenntniß des absoluten Vocalsatzes: das Clavier hat bei der Arbeit aushelfen müssen; die begleitenden Stimmen singen nicht, sondern hüpfen in unmelodischen Sprüngen umher, um harmonische Lücken zu stopfen. Drei- und vierstimmige Sätze drängen die armen Kinderstimmen in die äußerste Höhe und den tiefsten Abgrund.

Daß solche Uebelstände hier vorhanden sind, kann nicht befremden. Die allgemeine Einführung des Gesangunterrichts in Volksschulen trat erst mit der Regelung dieses Schulwesens ein, das bekanntlich neueren Ursprunges ist. Den Volksschullehrern lag es nahe, zunächst für ihre musikalischen Bedürfnisse zu sorgen, und sie haben dies nach besten Kräften gethan! Wenn sie in ihrer Aufgabe zu weit gingen, musikalisch nicht das Rechte trafen, ja Fehlgriffe thaten, wer könnte mit ihnen darüber rechten? – Seminarien haben nicht die Aufgabe, Gesangkünstler und Tonsetzer zu bilden. Man führe diese Disciplin in ihre natürlichen Grenzen zurück und beachte das oben Angedeutete, dann wird hier wenig zu wünschen übrig bleiben.

Nicht so einfach und übersichtlich verhält es sich mit den Erfordernissen einer Reform des höheren Schulgesanges. Diese Disciplin war noch vor nicht vielen Jahren, mit einzelnen Ausnahmen, eine völlig verkommene. An ihr ist viel verschuldet, und ihrer Aufhülfe stehen deshalb noch heute die sonderbarsten Vorurtheile hindernd entgegen. Die oben citirte Aeußerung eines Gymnasiallehrers ist in dieser Beziehung charakteristisch, und noch nicht einmal die schlimmste Sorte von Vorurtheilen, die gegen diese Disciplin in maßgebenden Kreisen oft noch bestehen.

Es liegt jedoch andererseits in unserer Zeit ein mächtiger Zug, die ehedem so hochbedeutend gewesene Chormusik wieder zu Ehren zu bringen. Wer z. B. in Norddeutschland dieses Wiederaufleben des erhabenen, correcten Chorgesanges unserer Altmeister beobachtete, dem kann nicht entgangen sein, daß die Gründung des Berliner Domchores durch Friedrich Wilhelm den Vierten hierzu den Impuls gab. Dieser Zug unserer Zeit konnte auch auf die höheren Schulen, welche die Mittel zur Bildung ähnlicher Chöre in sich vereinigen, nicht ohne günstige Einwirkung bleiben. Nachdem einzelne Schulen in dieser Beziehung ein gutes Beispiel gegeben, ist die Erkenntniß, daß die betreffende Hand an diese Disciplin zu legen sei, in weitere Kreise gedrungen und im Fortschritt begriffen. Freilich langsam und mit großer Scheu (aus Sparsamkeit) gegen das einzige Radicalmittel, das hier helfen kann (und wird): Entfernung des billigen Dilettantismus, Erkenntniß der Nothwendigkeit, daß ein Gesanglehrer höherer Schulen Kenntniß der Gesangskunst und tüchtige Vorbildung für seine specielle Aufgabe sich angeeignet habe.

Es genügt keineswegs, wenn Jemand etwas mehr oder weniger fertig Clavier oder Violine spielt und von Accorden etwas gehört hat. Diese Dinge verhalten sich zur beregten Aufgabe genau ebenso, wie die Handlangerei zur Baukunst.

Die Wahrung der sanitätlichen Seite der Aufgabe fordert neben der Kenntniß des menschlichen Stimmorgans eine große Umsicht und Erfahrung in der Gesangsbehandlung mutirender Stimmen in des Wortes umfassendster Bedeutung.

Die gefährlichste aller Uebergangsperioden des Menschen, die vom Knaben- in das Jünglingsalter hinüberführende, fällt in diese Schulzeit und führt die complicirtesten Organzustände in einem höheren Schulchore zusammen, die auf das Sorgfältigste berücksichtigt werden müssen, um Schädigungen abzuwenden.

Eine langjährige Wirksamkeit in Schulen überzeugte mich, daß die Natur ihre Schönheit an Wohllaut der Stimme an unsere Kinder mit verschwenderischer Fülle hingiebt, und daß eine verständige Pflege des Schulgesanges wohl vermag, diese kostbaren Stimmschätze für’s Leben zu erhalten, zu veredeln und damit auch auf die Gesundheit fördernd hinzuwirken.

Wäre es möglich, die durch Gesangsmißbrauch (der auch in ähnlicher Weise außerhalb der Schule unkrautartig wuchert) verletzten Kehlköpfe wie die von den Pocken zernarbten Gesichter an’s Licht zu stellen, man würde sehen und begreifen, wie es zuging, daß eine im Kindesalter so rührend klangvolle Stimme im späteren Alter nichts mehr von ihrer ursprünglichen Schönheit erkennen läßt. Könnte man tiefer in die Brust hinabsehen, man würde die Keime zu späteren Leiden finden, die Gesangsmißbrauch pflanzte und andere Einflüsse dann großzogen.




Blätter und Blüthen.


Das Muttergottesdorle. In dem fränkischen Rom, in der Stadt Bamberg, starb in dem vergangenen Winter eine Frau, die weit hin im ganzen katholischen Frankenlande bekannt, ja berühmt und gesucht war.

Wenn man die menschlichen Existenzen in solche eintheilen kann, die auf die Einsicht und Klugheit der Menschen und solche, die auf den Aberglauben und die Dummheit derselben begründet sind, so wird man finden, daß die letzteren stets die einträglichsten sind. Das mag auch „das Muttergottesdorle“ – Dorle ist abgekürzt aus Dorothea – gefunden haben, oder vielmehr Diejenigen, welche mit ihm im Bunde waren. Die genannte Person braute zwar kein Jacobi’sches Elixir, aber sie besaß ein Muttergottesbild, das im Rufe großer Wunderthätigkeit stand. Sie wohnte zu Bamberg in einem unscheinbaren Hause an einer Straße, die nach dem Sande führte. Man mußte eine dunkle Treppe emporsteigen, auf der man sich den Hals brechen konnte. Das war praktisch, vielleicht konnte das wunderthätige Bild dann seine Wunderkraft gleich erproben. Dann kam man in ein dunkles Zimmer, das nicht sehr reinlich aussah, denn um die Wunder muß immer etwas Schmutz, Finsterniß und Rauch sein. Im Hintergrunde desselben war ein altarartiger Aufbau, auf welchem unter Beleuchtung von dicken Wachskerzen das Bild aufgestellt war. Was dasselbe eigentlich vorstellte, konnte man bei dem heiligen Dunste, der in der Stube herrschte, nicht recht erkennen; man sah ein weibliches Gesicht, man sah ein Paar dürre Arme, eine Krone oder so etwas Aehnliches auf dem Kopfe der Gestalt; dann sah man nichts mehr, als byzantinisches Dunkel. Aber das alte Weib, welches die Hüterin und Besitzerin des Bildes war, sagte, daß es die Mutter Gottes sei, und die Hauptsache war, daß die Leute es glaubten. Und es kamen sehr viele Menschen, vornehme und geringe, junge und alte, Männer und Frauen, natürlich letztere in Mehrzahl. Das Bild des Muttergottesdorle hatte für alle Schmerzen und Klagen des menschlichen Herzens eine Erhörung; es verlieh gute Träume und zeigte in denselben die Nummern, die in der nächsten Lotterie gewinnen würden; wem die Schinken aus dem Schlote gestohlen waren, dem verhalf es wieder zu seinem Eigenthume, indem es an das Gewissen des Diebes appellirte, vorausgesetzt, daß das gestohlene Gut nicht schon verzehrt war; es vertrieb den jungen Mädchen die Sommersprossen und verschaffte ihren Bräutigamen gute Anstellungen; es erlöste die Seelen aus dem Fegefeuer und schaffte gute Verdauung – Alles gegen Erlegung eines Gulden; nur gegen die Dummheit schien es machtlos gewesen zu sein.

Ein Gulden war der Minimalsatz, es war Niemandem benommen, mehr zu geben, im Gegentheil, dadurch wurden die wunderthätigen Wirkungen nur um so sicherer und nachhaltiger, aber unter einem Gulden war auch unter der Würde des Heiligthums; für einen Gulden durften es die Kranken sogar mit ihren kranken Gliedern berühren, und die nicht Kraft genug hatten, selbst die Heiligthumsstätte aufzusuchen, sandten die Lappen, mit denen ihre Wehe gebunden wurden, dahin, damit das „Muttergottesdorle“ dieselben mit dem Bilde in Berührung bringe und so die Kraft desselben auf die Bänder und Bandagen ausströme. Aber der Gulden allein that es nicht, sondern man mußte mit rechtem Herzen und gläubigem Sinne kommen; nur unter dieser Bedingung wurden die Gebete erhört. Wenn sich dagegen keine Wirkung einstellte, dann waren die Hülfesuchenden selbst daran schuld, dann waren von ihnen die genannten Bedingungen nicht erfüllt worden. Diese Casuistik war das Schlaueste an dem ganzen Humbug.

Schließlich starb das „Muttergottesdorle“. Wie die Person geheißen hatte, das wußte bis zu ihrem Tode eigentlich Niemand, ihr Vorname war Dorothea und die übrige Bezeichnung kam von ihrem Gewerbe; denn nichts Anderes war dieses unwürdige Spiel mit dem Glauben und der Frömmigkeit und dem Vertrauen der Menschen, und noch dazu ein sehr einträgliches Gewerbe. Die Besitzerin des Bildes zwar war von den Wunderwirkungen desselben felsenfest überzeugt, aber sie war dabei lediglich das einseitige Werkzeug Anderer, sie hatte sogar nichts davon, als vielleicht den Lebensunterhalt, denn wenn man sie auch für wohlhabend hielt, so ergab sich aus ihrem Nachlasse doch das Gegentheil. Dagegen munkelte man, daß sie aus dieser unsauberen Speculation mehr denn vierzigtausend Gulden Geldes und Werthes an die Domgeistlichkeit der fränkischen Bischofsstadt abgeliefert habe. Welches das Ende dieses verdammenswürdigen Hokuspokus war? Ein Ende mit Schrecken, das heißt: der Schrecken kam unter die Clerisei, als das Bamberger Bezirksgericht den Nachlaß der Verstorbenen und darunter auch das einträgliche Bild zur Versteigerung ausbieten ließ. Wer es erworben hat? Vielleicht hat sich eine fromme Gründergesellschaft gefunden.

H.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_267.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)