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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

waren in Gesichtszügen, Haltung und Kleidung so deutlich unterschieden wie im weltlichen Leben und ganz und gar nicht mit den Gebilden zu vergleichen, wie sie eine lebhafte Einbildungskraft willkürlich vor die Seele stellen kann. Dabei waren sie weder schrecklich, noch komisch, noch widrig, einige sogar angenehm.

Nach etwa vier Wochen hörte Nicolai sie erst untereinander sprechen, dann wurde auch er in die Unterhaltung gezogen. Waren es doch auch lauter verehrte Freunde und Freundinnen, verstorbene und lebende; unter den letzteren nur solche, mit welchen Nicolai nicht im täglichen Verkehr lebte, entfernt wohnende, lange nicht gesehene. Sie sprachen sehr verständig, ihrem Charakter ganz angemessen zu ihm, namentlich waren sie bemüht, ihn in kurzen, oft abgerissenen Sätzen über die Gegenstände seines Kummers zu trösten. Uebrigens war der alte Aufklärer weit entfernt, sich durch diese persönlichen Erfahrungen von der Realität der Gespensterwelt überzeugen zu lassen. Kaum waren sie fort, so hielt er den Sinnen, die ihn betrogen, untrügliche Vernunftschlüsse entgegen. Gelang es ihm dadurch auch nicht, die Geister zu bannen, so bannte er wenigstens alle Furcht vor ihnen. Er machte sie, soweit es anging, zum Gegenstand seines Studiums, ja er fing als ein richtiger Berliner nach einiger Zeit an, sich mit ihrer Betrachtung zu amüsiren und mit seiner Frau und dem Arzte darüber zu scherzen. Aergerlich und Besorgniß erregend blieben indessen doch die zudringlichen Gestalten. Ganze Tage lang beunruhigten sie ihn und sobald er Nachts aufwachte, waren sie auch wieder da.

Zuletzt rieth ihm sein alter Hausarzt, sich Blutegel ansetzen zu lassen. Wo, das hat er der Akademie der Wissenschaften auch nicht verschwiegen, und seine naive Offenherzigkeit hat ihm viel grausamen Spott zugezogen. Unter anderen ergriff bekanntlich Goethe die Gelegenheit, ihm als dem Proktophantasmisten im „Faust“ die poetische Unsterblichkeit zu sichern. Die Operation wurde etwa zwei Monate nach der ersten Begegnung mit den Gespenstern vollzogen. Beim Beginn derselben wimmelte das Zimmer noch von menschlichen Gestalten jeder Art, die sich lebhaft durcheinander drängten. Bald aber fingen dieselben an sich langsamer zu bewegen, ihre Farben wurden blasser, ihre früher sehr fest bestimmten Umrisse schwankender, und zuletzt zerflossen sie gleichsam in der Luft, um nicht wieder zurückzukehren. Sie, die der kräftigsten Willens- und Vernunftsanstrengung, ja die dem Spott des Berliners nicht einen Augenblick gewichen waren, kehrten in ihr Nichts zurück vor sechs Blutegeln, welche weitab vom Kopfe angesetzt worden waren.

Und doch waren es ganz unbezweifelt Gespenster, die Nicolai gesehen hatte, so echte und richtige, wie sie überhaupt nur gesehen worden sind. Auf dem kritischen Berliner Boden, dem massiven norddeutschen Verstand gegenüber, hatten sie freilich einen schweren Stand und ihr naives Verschwinden vollends hat sie lächerlicher gemacht, als sie verdienten. Denn dem Wesen nach sind alle Visionen dieser gleich; so genau beobachtet und so nüchtern beschrieben haben nur wenige Visionäre ihre Erfahrungen wie Nicolai. Von einer weltgeschichtlichen Bedeutung derselben kann allerdings schon um deßwillen keine Rede sein, weil Nicolai sie sofort für Das nahm, was sie an sich sind, für Krankheitserscheinungen und Sinnestäuschungen; Visionen von weltgeschichtlicher Bedeutung aber setzen in erster Linie den unerschütterlichen Glauben an eine directe Verbindung des Himmels mit der Erde voraus. Ist dieser Glaube im Visionär wie in seinen Zeitgenossen vorhanden, und ist der erstere außerdem eine Persönlichkeit von bedeutender Anlage, von heroischem Enthusiasmus, was Nicolai nicht war, so sind damit erst die Bedingungen gegeben, unter welchen Visionen eine weltgeschichtliche Bedeutung erlangen können. Den Visionen der Jungfrau von Orleans kommt ohne Zweifel eine größere objective Realität nicht zu als den Nicolai’schen. Sie gingen, wie jene, aus einer krankhaften körperlichen Organisation[1] und aus einer auf’s Aeußerste gesteigerten geistigen Spannung hervor. Aber indem die Jungfrau in Folge dieses Zustandes die Bilder, welche ursprünglich nur die Gluth ihrer Andacht und ihr opferfroher Patriotismus erzeugte, als ein Aeußerliches schaute und in ihnen sofort die Stimmen und Boten der jenseitigen Welt verehrte, erhielt der Glaube an ihre Sendung die göttliche Weihe und so wurde ihr jene schrankenlose Kraft, jener unwiderstehliche Siegesmuth eingeflößt, der, wie mit übernatürlicher Gewalt, die Freunde fortriß und die Feinde niederschmetterte.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Mohamed, dessen Beispiel auch insofern recht lehrreich ist, als es die sittlichen Gefahren lebhaft vor Augen stellt, welche nur zu oft mit dem visionären Zustand verknüpft sind. Es ist längst nachgewiesen und kann nachgerade als ausgemacht gelten, daß Mohamed ursprünglich nichts weniger als ein Betrüger war.[2] Wie man auch sein körperliches Leiden nennen mag, ob Hysterie oder Epilepsie, jedenfalls zog er sich als ein armer, kranker Schwärmer aus Mekka zurück, voll Grauen vor dem nahen Weltgericht, dessen Nähe die Christen auch in Arabien mit Feuereifer verkündeten. Um sich in der tiefsten Einsamkeit auf sein Erscheinen vor dem Richterstuhl Gottes vorzubereiten, bezog er eine Höhle auf dem Berge Hirâ, vier bis sechs Ellen lang und höchstens drei Ellen breit. Der Ort entsprach ganz den unheimlichen Oeden, wohin der Volksglaube die Wüstengespenster versetzte. Nicht Wasser und Rasen, nicht Blumen und Schatten erfreuten hier das Auge. Nackte Felsstücke strahlten das scharfe Sonnenlicht so grell zurück, daß die Augen fast davon versengt wurden. Dazu wirkt nun andererseits die reine elastische Wüstenluft so anregend und stärkend, ja berauschend auf den Geist, daß derselbe unwillkürlich veranlaßt wird, allerlei Bilder aus der Vergangenheit aufzufrischen und neue zu erzeugen, um damit die trostlose monotone Umgebung auszufüllen.

Denken wir uns in dieser Lage den phantasiereichen, körperlich und geistig leidenden Mann, aufgewachsen im Glauben an eine Welt von Engeln und Gespenstern, die bald sichtbar bald unsichtbar in das Leben des Menschen eingreifen, was Wunder, daß sich die Gebilde seiner aufgeregten Phantasie zu Visionen verdichteten! Dieselben entsprachen durchaus seinen Körper- und Gemüthszuständen. So lange die Furcht überwog, waren sie finsterer Art: er sah gräßliche Dämonen, hörte seinen Namen in schrecklicher Weise rufen, so daß er durch Angst bis zu Selbstmordgedanken getrieben wurde. Auf den Zuspruch seiner Frau jedoch und anderer frommer Mekkaner, daß ihm der einige Gott diese Anfechtungen nur sende, um ihn späterhin zu besonderen Zwecken tüchtig zu machen, wich die Furcht allmählich dem Bewußtsein eines höheren Berufes und alsbald nahmen auch die Visionen einen freundlicheren Charakter an. Einst sah er – ohne Zweifel kannte er damals schon die Geschichte der Berufung Moses – einen entfernten Baum in wunderbarem, überirdischem Lichtglanz strahlen. Wie er in sprachloser Entzückung hinschaute, glaubte er einen Engel vom Baum zum höchsten Himmel aufsteigen und sich dann zu ihm niederlassen zu sehen.

Mit dieser Vision war sein Lebensberuf entschieden; er hatte dadurch die Gewißheit erlangt, daß er zum Propheten des ewigen Gottes unter den abergläubische Mekkanern bestimmt sei. – Man kann gar nicht zweifelhaft bleiben über den Ursprung dieser Visionen, wenn man dieselben fort und fort mit dem Wesen und Wirken des Propheten in vollster Uebereinstimmung findet. Bekanntlich hatte Mohamed’s religiöse Genialität von Anfang an eine glühende Sinnlichkeit zur physischen Grundlage. Als nun nach den Jahren des aufregenden Kampfes das Fleisch mehr und mehr über den Geist triumphirte und der Polterer anfing ein fauler Bauch zu werden, da kam meistens auch der Inhalt der Visionen auf recht irdische Dinge herab. „Mein einziges Vergnügen auf Erden,“ sagte der Prophet nach einer wohlverbürgten Tradition, „sind Weiber, Wohlgerüche und das Gebet.“ Die Weiber stellte er also mit der großen Männern eigenen Aufrichtigkeit voran. Und Allah gönnte denn auch nach seiner unergründlichen Barmherzigkeit seinem Knechte zum Ersatz für die schwere Lebensaufgabe die größte Freiheit im Liebesgenuß. In Folge verschiedener Offenbarungen durfte der Prophet vierzehn Frauen und drei Nebenweiber halten; ja zuletzt wurde die allgemeine Weisung ertheilt: „Wenn sich aber eine gläubige Frau dem

  1. „Johanna d’Arc ist nicht blos als Jungfrau geschieden, sie ist auch nach einem sichern Zeugnisse, welches nichts dadurch erklären will, in einer bestimmten Beziehung immer ein Kind geblieben. Ihre Erscheinungen aber begannen im dreizehnten Jahre. Durch ihr häufiges Fasten und ihre ganze, einer strengen Fastenzeit ähnliche Nahrungsweise mag sie unbewußt und doch mit der Klugheit des Instincts die visionäre Stimmung gefördert haben.“ Hase, Neue Propheten. I. S. 88.
  2. Sprenger, Leben und Lehre des Mohamed.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_283.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)