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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wachenden Zustand nicht willkürlich schaffen kann. Die Erklärung genügt nicht, daß am Tage unsere Phantasie durch den gleichzeitigen Eindruck der Außenwelt beständig gehemmt werde; denn auch wenn wir in der tiefsten Stille der Nacht mit geschlossenen Augen uns wachend irgend eine beliebige Scene oder ein Bild willkürlich vorstellen, wie matt, verschwommen, unbestimmt und haltlos erscheinen diese willkürlichen Productionen gegenüber der kräftigen Realität der gewöhnlichsten Träume! Vollends den Träumen im tiefen Schlaf, bald nach Mitternacht, gegenüber, die in ihrer dramatischen Lebendigkeit das wirkliche Leben oft an Spannung weit übertreffen! Wir sind da plötzlich in Situationen, die unser peinlichstes Interesse erregen, die handelnden Personen benehmen sich ganz ihrem uns aus dem Leben bekannten Charakter gemäß, und wir selbst nicht minder. Wir ängstigen uns bis zur Fieberhitze, wir kämpfen, weinen, ringen, halten wahrhaft vernichtende Reden an unsere Widersacher und sind in Verzweiflung, daß wir keinen Ausweg finden. Alle unsere Seelenkräfte sind in Thätigkeit, sogar die Phantasie, indem wir uns mittelst derselben abwesende Dinge vorstellen.

Sollen wir mit einem Worte den Unterschied zwischen den Traumbildern und den willkürlichen Productionen der Phantasie angeben, so ist es offenbar der, daß die Letzteren blos im Gehirn stattfinden, während bei den Traumbildern außer dem Gehirn auch die Sinnesnerven betheiligt sind. Wie lebhaft wir uns wachend einen abwesenden Freund vergegenwärtigen, unsere Vorstellung bleibt ein Hirngespinst und wird auch von einem Gesunden für nichts Anderes gehalten; das Traumbild dagegen ist zugleich in den Sinnesnerven, es bemißt Licht-, Farben-, Geruchs- und Geschmacksempfindungen und ist daher von der wirklichen objectiven Welt vor dem Erwachen schlechterdings nicht zu unterscheiden. Sind aber im Traume die Sinne, durch welche wir im wachenden Zustand unsere Vorstellungen zu controliren und zu corrigiren pflegen, selbst mit in die Täuschung hineingezogen, so kann uns nur die Erfahrung und das vergleichende Urtheil lehren, was Leben und was Traum sei. Der ganze Unterschied ist der, daß im wachenden Zustand die Sinnesnerven aus der äußeren Welt ihre Reizung erhalten und dieselbe von dort nach innen in’s Gehirn fortleiten, während im Traum umgekehrt die Thätigkeit vom Gehirn ausgeht und sich von da in die Sinnesnerven fortpflanzt.

Was aber setzt nun das Gehirn im Schlafe in Thätigkeit, wenn Eindrücke aus der Außenwelt nicht mehr zu ihm dringen? Bekanntlich geht auch im Schlaf das organische Leben, nur unter einiger Verringerung der Wärme, des Pulses und des Athems etc., seinen Gang. Herz, Lunge, Magen arbeiten unablässig weiter und sind mit der Heilung des Verletzten, der Herstellung des Verlorenen, der Beseitigung aller Unordnungen rastlos beschäftigt. Aus dieser inneren Werkstatt dringt am Tage kaum einmal ein dumpfer halbverlorener Laut in das Bewußtsein. Das Gehirn, obwohl es durch jene zarten Nerven- und Gefäßverschlingungen, welche es mit dem Rückenmark verknüpfen, in Verbindung mit dem inneren Organismus steht, hat doch am Tage so ausreichend mit dem Empfangen und Verarbeiten der Sinneseindrücke zu thun, daß es sich um Anderes nicht groß kümmert. Ein gesunder Mensch wird eben nur, wenn er seine Aufmerksamkeit darauf richtet, inne, daß sein Bewußtsein nicht ganz unabhängig vom organischen Leben des Körpers ist, daß die größere oder geringere Geistesfrische mit der Verdauung in einiger Beziehung steht, daß seine Stimmung im Zusammenhang mit allerlei organischen Verrichtungen bald trüber, bald heiterer ist etc. Aber erst im Schlafe werden jene schwachen Eindrücke, die aus dem inneren Nervenherde des organischen Lebens heraufdringen, da wird jede geringe Modification des Blutumlaufs, die sich den Gefäßen des Gehirnes mittheilt, fühlbar, wie die Kerze zu scheinen anfängt, wenn die Abenddämmerung eintritt, oder wie wir bei Nacht die Quelle rieseln hören, die der Lärm des Tages unvernehmbar machte. Das Gehirn aber, durch irgend einen Reiz einmal afficirt, beginnt alsbald seine gewohnte Thätigkeit. Wie es am Tage seine Aufgabe ist, den dürftigen Rohstoff, welchen die Sinnesnerven ihm zuführen, zu Bildern der objectiven Welt zu verarbeiten, diese Bilder untereinander und zu sich in Beziehung zu setzen, so setzt es im Traume, in Thätigkeit gesetzt durch die Reizungen, die vom inneren Organismus ausgehen, unwillkürlich diese Arbeit fort. Ist nun die Reizung eine so starke, daß sie sich vom Gehirn aus auch in die Nervenstränge fortpflanzt, die zu den Sinnen führen, so sieht das Auge, so hört das Ohr, so steht im Schlaf ein Bild vor uns, ununterscheidbar von dem, welches im Wachen auf die Anregung der äußeren Welt sich bildete.

Unumgängliche Voraussetzung ist dabei, daß auch im wachenden Zustand das Gehirn Anschauungen, Bilder, Begriffe erzeugt habe. Seiner eigentlichen Bestimmung nach soll es ja doch nur dem wachenden Menschen das Verständniß der Außenwelt vermitteln; und was es im Schlaf zu leisten vermag, ist nichts weiter, als eine verworrene und unwillkürliche Nachbildung der im Wachen gewonnenen Anschauungen; es muß sich von dem Bildervorrath nähren, den wir wachend gesammelt haben. Wie nun, wenn man eine große Anzahl Bilderbogen zerschneidet und die einzelnen Theile blind durcheinander wirft, neben vielen ganz unsinnigen Combinationen auch einmal eine passende, ja frappante entstehen kann, so giebt es neben einer überwiegenden Menge gänzlich sinnloser Träume auch wohl recht sinnige und überraschende. Immer aber, wie kühn und befremdlich die Combination auch sein mag, ist sie nur aus entlehnten Theilen zusammengestückt. Neugeborene Kinder träumen noch nicht, weil sie noch keinen Bildervorrath gesammelt haben. Jeder träumt überhaupt nur, was seiner Art zu sehen und vorzustellen entspricht. Der Maler sieht auch im Traum pittoreske Gegenstände, der Musikverständige hört vollständige Tonwerke, während der Blindgeborene auch im Traume keine Vorstellung der wirklichen Welt gewinnt und der Unmusikalische keine Melodie und Harmonie, sondern höchstens angenehme oder unangenehme Töne vernimmt.

Genau so verhält es sich nun auch mit den Visionen, deren nahe Verwandtschaft mit den Träumen ja auf der Hand liegt. Beide Vorgänge sind Kinder derselben Mutter, sie gehen Beide aus einer Erregung des Gehirns hervor, die sich bis in die Sinnesnerven fortpflanzt. In allen den vorhin dargestellten Fällen ist offenbar die Vision nichts Anderes als ein wachend geträumter Traum, eine krankhafte Steigerung des Traumlebens, hervorgegangen aus einer weit über das gewöhnliche Maß gesteigerten Reizbarkeit des Gehirns und der sensibeln Nerven. Kein unbefangener Zeuge vernimmt etwas von den Visionen außer dem Schauenden selbst; dieser hinwiederum kann für die objective Realität derselben keinen Beweis geben als das Zeugniß seiner Sinne. Die Sinne aber können, wie wir gesehen haben, von innen so kräftig wie durch die objective Welt in Erregung gesetzt werden. Nicolai konnte mit demselben Rechte wie die Jungfrau sagen: „Ich habe diese seltsamen Gestalten gesehen, mit ihnen gesprochen.“ Es verschlägt Nichts, daß die Jungfrau auch die Kniee ihrer Heiligen umschlungen; der Tastsinn ist nicht schwerer zu afficiren als die übrigen Sinne. Erhielt doch der fromme Mystiker Heinrich Suso in einer Vision sogar ein Körbchen mit Erdbeeren, welche ihn außerordentlich erquickten. Daß aber dieses gegenständliche Träumen bei scheinbar wachem Zustand auf nicht normalen krankhaften Vorgängen innerhalb des Körpers beruht, läßt sich in allen Fällen beinahe constatiren. Ein völlig gesunder Mensch wird bei durchaus regelmäßigem Lebenswandel so wenig Träume als Visionen haben. Dagegen giebt es mancherlei krankhafte Zustände, die eine überraschende Analogie zu den Visionen bieten. Andrang des Blutes zum Gehirn, unregelmäßige Zusammensetzung desselben bei hitzigen Fiebern erzeugen Phantasien im Kopf des Kranken, welche durch den Anblick der wirklichen Welt nicht widerlegt werden können. Opium und andere narkotische Stoffe, geistige Getränke, im Uebermaß genossen, bringen Bilder im Gehirn hervor, die mit den süßesten Täuschungen erfüllen, bis die farblose Zeit der Ernüchterung kommt.

Der von der Tollwuth Befallene, der Wahnsinnige, merkt mit steigendem Grauen, wie finstere Gestalten allmählich das klare Welt- und Selbstbewußtsein umkrallen; und obwohl der reflectirende moderne Mensch in demselben anfangs noch die Schöpfungen seiner eigenen Phantasie erkennt, so fühlt er zugleich, daß er nicht auf die Dauer die Kraft haben wird, sich ihrer zu erwehren, sein Selbstbewußtsein vor diesen düsteren Mächten zu retten. Wie nun alle diese Leiden auf einer Störung der Gehirnfunction beruhen, mag dieselbe durch Verletzung dieses edelsten Körpertheils, Verschiebung einzelner Fasern und dergleichen, oder durch einen vom organischen Gesammtleben ausgehenden Einfluß herbeigeführt sein, so ohne Zweifel auch die Vision. Der Nachweis

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_292.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)