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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Gebäuden durch das Feuer verlor, und eben deshalb die Hauptzufluchtsstätte namentlich für die fünfundsiebenzigtausend obdachlos gewordenen Bewohner der Nordseite nach dem Feuer darbot.

Die zweistöckige Wohnung unseres Capitains befand sich nur wenige „Blocks“ (ein „Block“ ist in der Regel dreihundertzwanzig Fuß lang und dann folgt jedesmal eine neue Querstraße) vom Hauptfluß entfernt auf der Nordseite. Um zwölf Uhr Nachts (8.–9. October) war das nach neun Uhr Abends auf der Westseite ausgebrochene Feuer schon im Geschäftsherzen der Stadt angelangt, und die Nordseite und namentlich der in der Nähe der bereits brennenden Südseite gelegene Theil derselben mußte im Voraus als verloren betrachtet werden. Gilson, der natürlich ebenso wenig zu Bett gegangen war wie der größte Theil der dreihunderttausend Einwohner der Stadt, beschloß, wie die Griechen vor Troja, sich mit seiner Familie und seinen Habseligkeiten auf seine so oft im Sturm erprobte „Magnolia“ zu flüchten und dann hinaus auf den See, der jetzt allein vor dem feurigen Element sicher schien. Er eilte zu dem Ende nach dem in der Nähe der Hafenmündung befindlichen Dock der Illinois-Centralbahn, an welchem der Schleppdampfer lag. Der Capitain fand seine Mannschaft an Bord und in Bereitschaft. Ehe jedoch der Weg flußaufwärts angetreten wurde, hatte sich die Lage der Dinge wenige Blocks vom Schleppdampfer so rasch und furchtbar gestaltet, daß der ursprüngliche Entschluß Gilson’s, vor Allem für sich selbst zu sorgen, über Bord geworfen und dagegen die „Magnolia“ nebst Capitain und Mannschaft dem Dienst und der Rettung der Tausende geweiht wurde, welche, aus dem Geschäftscentrum der Südseite vertrieben, auf den Docks und auf den Dampf- und Segelschiffen im Hafen eine, wie sie glaubten, sichere Zuflucht gefunden hatten. Es zeigte sich bald, daß sie den gefährlichsten aller Plätze gewählt hatten. Das Vordringen der Flammen nach dem See zu (von Südwesten nach Nordosten) wurde durch die entgegenstehenden Reihen von Steingebäuden nur etwas verzögert. Als die Flammen schließlich den Riesenbahnhof am See, etwa tausend Fuß südlich vom Chicago-Fluß gelegen, erreichte, war der Schrecken unter den östlich (noch weiter in den See hinaus) an Docks und auf Schiffen zusammengedrängten Tausenden um so größer, als die Gefahr ihnen als eine völlig unerwartete erschien. Der Schrecken stieg, als einer der beiden riesenhaften Kornspeicher (elevator) der Illinois-Central, die auf der einen Seite das goldene Korn vom Geleise der Bahn per Dampf aufsaugen, um es auf der anderen Seite in die Getreideflotten der nordwestlichen Seen gleichfalls per Dampf zu ergießen, als einer dieser Millionen von Bushel (etwa ein Berl. Scheffel) bergenden Elevatoren in Brand gerieth und die dicht dabei liegenden Schiffe, sowie den weiter östlich (seewärts) liegenden Riesencameraden bedrohte.

Die „Magnolia“ war der einzige Schleppdampfer am Platze. Die anderen neunundfünfzig Schlepper befanden sich, da bei Südwestwind für sie keine Beschäftigung vom See aus in Aussicht stand, weiter flußaufwärts und die mittlerweile in Brand gerathenen Brücken zwischen Süd- und Nordseite hätten die Fahrt nach der Mündung unmöglich gemacht, selbst wenn man ihnen eine Botschaft hätte zustellen können, was während der ganzen Nacht so gut wie unmöglich war. Capitain Gilson und sein Schleppdampfer waren somit die einzigen Retter und sie unterzogen sich der kolossalen Aufgabe mit einem Eifer und einer Aufbietung aller Kräfte, die selbst das Gesetz zu übertreten nicht scheute, nach welchem der Dampfdruck nicht über neunzig Pfund betragen darf. Zunächst wurden die zwischen den beiden Elevatoren liegenden Schiffe aus dem „Slip“ oder Canal in den Hauptfluß gebracht und dadurch der eine Elevator mit seinem an zwei Millionen Dollars werthen Inhalt gerettet.

Außer den durch die „Magnolia“ nach dem Fluß bugsirten Schiffen lagen noch viele andere an den auf dem rechten oder südlichen Ufer des Flusses befindlichen Docks. Die Capitaine der Schiffe wiesen anfangs das Anerbieten Gilson’s, sie in den See hinauszuschaffen, zurück, für so sicher hielten sie trotz des immer näher heranbrausende Flammenmeeres ihre Stellung. Aber eine der festen Steinburgen nach der anderen westlich und südlich von den Schiffen stürzte zusammen, und die fünftausend Menschen, welchen die Hitze das Athmen immer mehr erschwerte, mußten so rasch als möglich auf die Nordseite des Flusses oder auf den See hinausgeschafft werden.

An den nördlichen Docks glaubte man sich ziemlich sicher, insofern die Gegend nicht in der Hauptrichtung des Feuers lag, welches von Südwesten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad über der Süd- und Nordseite wegfegte, und insofern der an der Mündung breitere Fluß einigen Schutz versprach. Aber das Eigenthümliche eines nach Quadratmeilen zu berechnenden Feuers sind eben seine Unregelmäßigkeiten; trotz des vorherrschenden Südwestwindes oder Sturmes entstanden während und durch das Feuer selbst Gegenströmungen, das Feuer fraß direct gegen den Wind seit- und rückwärts, und während die erwähnten Schiffe und die auf ihnen befindlichen Tausende den feurigen Feind vom Süden erwarteten, erschien er plötzlich vom Norden her, der lang am nördlichen Ufer nach der Mündung zu sich erstreckende Holzhof der Peshtigo-Company loderte mit einer Masse von Brettern, Ständern, Schindeln und Balken, welche zehn Holzhöfe in Hamburg gefüllt haben würden, in hellen Flammen empor.

Die Capitaine, welche vorher Gilson’s Aufforderung, sich auf den See hinausbringen zu lassen, verschmäht hatten, schrieen jetzt um die Wette nach der „Magnolia“. Man wird fragen: warum dampften denn die Schrauben- und Raddampfer nicht selbst mit eigenem Dampfe zum Hafen hinaus? Sie konnten das einfach aus dem Grunde nicht, weil der heftige Südwestwind sie so dicht und fest an das nördliche Ufer preßte, daß sie sich nicht rühren konnten.

Capitän Gilson verrichtete mit seiner „Magnolia“ wahre Wunder. Gleichgültig gegen Explosionsgefahr steigerte er den Dampfdruck seiner Maschine auf 150 Pfund und schaffte zuerst das Schraubenschiff Ira Chaffee, welches für mehr als tausend Personen einen Zufluchtsort bot, aus dem Hafen. In ähnlicher Weise wurden noch mehrere Dampfer und Schooner gerettet und damit ein Zufluchtsplatz für die zwischen Feuer und Wasser eingekeilten Tausende gesichert, während Gilson durch die Entfernung der Schiffe zugleich die Ausbreitung des Brandes weiter ostwärts, nach dem Leuchtthurm zu verhinderte, in dessen Nähe Tausende der abgebrannten Bewohner der Nordseite in ähnlicher Weise eine Sicherheit gesucht hatten, wie die wiederholt erwähnten fünftausend Abgebrannten der Südseite; Capitain Gilson eilte daher seewärts und postirte sich in der Nähe des neuen Leuchtthurms vor die Einfahrt in den Ogden’schen Canal. Zwischen diesem Canal und dem Fluß, auf einer verhältnißmäßig kleinen Fläche, standen Tausende, ängstlich den Fortgang der auf sie zukommenden Flammen beobachtend und sich mit größter Mühe durch über den Kopf gezogene Mäntel und Tücher vor dem unablässigen Funken- und Feuerregen schützend. Zwar hatte Gilson die Gefahr directer Verbrennung dieser Tausende durch die oben berichtete Fortschaffung der Schiffe verhindert, aber nicht die Gefahr eines von Norden kommenden Feuer- oder doch Erstickungstodes. Diese Gefahr trat ein, als der in Ogden’s Canal liegende Schooner „Swallow“ in Folge des in Brand gerathenen nahen Kohlenhofs von Paine und Dyer Feuer fing und nach den Tausenden zutrieb, die ohnehin vor Hitze und Qualm schon halb erstickt waren, und ohne das rasche Handeln Gilson’s würden am Ufer des Michigansees Massenerstickungsscenen erfolgt sein, welche die von Peshtigo an Grausen noch übertroffen haben würden. (Im Peshtigo-Fluß kamen in Folge des Waldbrandes mit einem Male, und zwar auch in der Nacht vom achten bis neunten October, dreihundert Personen jeden Alters und Geschlechts um.)

Wie enorm die Hitze in der Umgebung bereits war, bewiesen die keine dreihundert Fuß von den Menschenmassen hochrückig gewordenen Eisenbahnschienen. Capitän Gilson dampfte rasch den Canal hinauf, nahm den brennenden Schooner ins Schlepptau und entfernte ihn aus dem Bereich der Massen. Diese hatten sich mittlerweile immer mehr nach der Einfahrt des Canals zugedrängt und standen großentheils auf dem etwa zwanzig Fuß breiten, mit Steinen bedeckten westlichen Seitendamm. Als die „Magnolia“ nun selbst unmittelbar vor dem Seitendamm in Sicht kam, wehten alle möglichen Tücher und ertönten alle möglichen Geldangebote. Jeder wollte zuerst an Bord genommen und nach den im Hintergrunde winkenden Propellern geschafft werden. Gilson wies jedoch alle Geldanerbietungen zurück. Zeit, so erklärte er, sei oder bedeute diesmal nicht Geld, sondern Menschenleben, und so viel als möglich von den letzteren zu retten, ohne Unterschied der Person, sei seine einzige Aufgabe. Die Ueberfahrt nach dem östlichen oder äußersten Seitendamm, der fünfzig Fuß breit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_373.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)