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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

und heraus trat der große Agitator, klein, dünn und mager; hinter ihm seine stete Begleiterin im Grenchenbad, die niedliche Hauskatze. Sie gingen selbander und schweigend durch den Hain, durch das Thal, durch Feld und Wald, hinauf zur uralten Allerheiligencapelle, wohl auch hinüber zum freundlichen Pfarrherrn von Lengnau, schon im Canton Bern, der im Falle der Noth Mazzini und seine Freunde beherbergte und für den Fall einer ernstlichen „Suchete“ ein Versteck unter den Dielen seines Studirzimmers hatte aushöhlen lassen, um des urkatholischen Italiens wandelnden Stern tief unter die Sohlen protestantischer Gottesgelahrtheit zu versenken.

Bald kehrte Mazzini mit seiner Katze wieder heim, sie war hier sein Schatten, wo er auch weilte, selbst an der Mittagstafel saß sie neben ihm, miaute ihn zärtlich an, putzte fein säuberlich Schnäuzchen und Mantel und wurde vom Agitator selbst bedient „mit Speisen aller Arten“, wie es im Volkslied heißt. Das Thier bewachte, wenn er fort war, seine Thür wie ein Hund, und kehrte er zurück, so waren die Zeichen seiner Freude hundertfältig. Auch harrte es, tagelang im Winkel des Sophas kauernd, auf seinem Zimmer der Heimkehr des von aller Welt verfolgten Patrioten. Und – als er eines Tages nicht mehr wiederkehren wollte und immer größere Bahnen wandelte durch unruhvolle Jahre, lebte das Kätzlein nur noch kurze Zeit, der Abschied von seinem „Löwen“ hat ihm das Herz gebrochen.

So liebte und pflegte ein Mann, der fast vierzig Jahre lang die Regierungen des Continents in Athem und Jagd hielt, ein kleines unbedeutendes Thier! – Wer will nun diesem Manne, wie so oft geschehen, das Gemüth absprechen?

Eine fernere Eigenthümlichkeit des Agitators war seine beispiellose Nüchternheit. Er trank niemals geistige Getränke, dagegen täglich drei- oder viermal so starken schwarzen Kaffee, daß er, wie „Marianne“, des Badewirths Töchterlein, jetzige Frau Oberamtmann, auf’s Ernstlichste versicherte, hundert Andere „überschlagen“ (umgeworfen) hätte. Dazu umkräuselten ihn fast stetig die blauen Rauchwolken der allerstärksten Cigarren. – Er arbeitete Tage und Nächte und war trotzdem immer Morgens der Erste. Er hatte eine Agitatorennatur, unzerbrechlich und unverwüstlich wie der zähe Hickorystamm im Urwalde des freien Westens. Er warf nicht nur die Theorien der alten Staatskunst gründlich über den Haufen, sondern auch die Theorien aller Diätetiker prallten an seinem kleinen und scheinbar schwachen Körper ab; der Wein stärkte und belebte ihn nicht, der stärkste Kaffee wie das gefürchtetste Nicotin zog spurlos an ihm vorüber; die allergrößte Nüchternheit erhielt in ihm die unvergängliche Begeisterung für die Befreiung der Menschheit von den Fesseln mittelalterlicher Zustände!

Mazzini wurde endlich aus seinem stillen Thälchen, wie wir bereits angedeutet, vertrieben. Er hatte zu jener Zeit seinen Geschäftsführer Ustiglione bei sich und die Gebrüder Ruffini, zwei edle Modeneser, von denen der Ueberlebende die Schweiz noch heute alljährlich besucht und mit der Familie Girard in freundlicher Verbindung geblieben ist. Doch auch manche deutsche Verbannte jener Zeit, Männer des Hambacher Festes oder des Frankfurter Attentates, traten mit Mazzini und dem alten Grenchenbad in engere Verbindung.

Der italienische Patriot war damals, wie schon berührt, Seele und Chef des jungen Europa, das aus Jung-Italien, Jung-Deutschland, Jung-Schweiz und Jung-Polen – und nach einiger Zeit auch aus Jung-Frankreich bestand. Das Organ jener in der That oft wie das Wild gehetzten jungen Männer war „die junge Schweiz“, ein Blatt, das unter eines Franzosen (Garnier’s) Redaction in Biel erschien, bei Weingart, einem Schweizer, und Ernst Schüler, dem noch jetzt unentwegten, behäbigen und munteren Herausgeber vom schweizerischen „Handelscourier“. Mathy, später Schulmeister von Grenchen und noch später Ministerpräsident des Großherzogthums Baden, wurde Uebersetzer jenes Blattes, das in langathmigen Europaartikeln (wie in unserer Zeit die „Vereinigten Staaten Europas“, Organ der Friedens- und Freiheitsliga) ein kurzes einjähriges Leben aushauchte. Mathy war Einer der Wenigen, die mit Mazzini und Ruffini auf näherem Fuße standen. Mathy war es auch, der, überall herumgehetzt, ebenfalls im alten Grenchenbade ein gastlich Dach, ein ruhiges Asyl und im Dorfe Grenchen eine zwar magere, aber doch immerhin nährende Stelle als erster Secundarlehrer fand und einige Jahre hindurch, in einem einfachen Bauernhause, wacker darauf los schulmeisterte, während seine damalige Milchlieferantin, eine muntere Ziege, im großen Stall nebenan „einsam und allein“ meckerte, bis die Schulknaben mit Laub, Gras, Heu oder sonstigem Zugemüse des Landlebens ihr überreich das Maul stopften. Noch heute erkennt man in manchen von Mathy’s damaligen Schülern das breite, allgemein menschliche Fundament, das er seiner Bildungsweise zu Grunde gelegt und das den Geist der Kirchthurmspolitik und des „Cantönligeistes“ so wohlthuend überstrahlt, wie magisches Alpenglühen die bengalische Flamme.

Auch Harro Harring, der Polenagitator, dessen ganzen Lebensgang wir nicht kennen, dessen politische Flugschriften aber in vielen jungen Herzen zündeten, – auch Harro Harring, jedenfalls ein sehr excentrischer Kopf, besuchte Mazzini öfter im Grenchenbad, mit dem er denn auch einmal bei der Allerheiligen-Capelle, oberhalb des Bades, gefangen genommen wurde. Harro Harring wollte den Agitator durchaus zu einem bewaffneten Einfall im Schwarzwalde bereden. Mazzini, der an seinem Savoyerzug genug erlebt haben mochte, lehnte diese Donquixoterie entschieden ab. Die meisten Flüchtlinge jener Zeiten, ja sogar noch Manche von 1849 lebten in der Idee, man könne ein Volk von außen herein revolutioniren; die Nationen aber können sich nur von innen heraus zur Freiheit bilden. Man gebe ihnen tüchtige Schulen, „und Alles wird wieder gut“.

Unter den Deutschen, die damals noch mit Mazzini, „dem Eremiten des Grenchenbades“, näher bekannt waren, verdient besonders noch Einer ein freundliches Denkmal. Er starb, nach Baden zurückgekehrt, im Jahre 1849 im Wahnsinn. Es war Dr. Ernst Herrmann Rauschenplatt, der Träger eines unruhevollen, stets kampfbereiten, aber immer ehrlichen und muthigen Lebens. Er war es, der auf Mazzini’s Frage: „was er sich unter einem allgemeinen deutschen Rechte vorstelle?“ die classisch-revolutionäre Antwort gab: „das Standrecht, Herr!“ Mathy sagte von ihm: „Muthig bis zur Tollkühnheit, ohne Bedürfnisse, der kluge Odysseus von Jung-Deutschland.“

Dieser deutsche Flüchtling ist uns deshalb besonders im Gedächtniß geblieben, weil seine politischen Kreuz und Querzüge jedenfalls die humorreichsten aller deutschen Flüchtlinge in der Schweiz sind und er der einzige Flüchtling sein und bleiben dürfte, der einen neuen Schweizer Canton begründet und demselben Gesetz und Recht verliehen hat. Rauschenplatt war der Dictator der unabhängigen Republik von Dipflingen. Dipflingen ist ein kleines Dorf, das zweite aufwärts Sissach, im Homburger Thale von Baselland, über welches dermalen die Eisenbahn thurmhoch ihre Wanderbahn hinwegzieht. Dieses Dorf kam in den Baseler Wirren der dreißiger Jahre, wo sich Stadt und Land jenes herrlichen Landstriches blutig befehdeten und sich später das Land von der Stadt lostrennte, auf die Idee: es wolle weder zur Stadt noch zum Lande gehören; es wolle, laut dem vielgepriesenen Selbstbestimmungsrecht der Völker, einen eigenen unabhängigen Freistaat „für ewige Zeiten“ begründen.

Gedacht, gesagt, gethan. Am 20. Mai 1833, vor nun bald vierzig Jahren, erklärte Dipflingen den Mächten Europas, in erster Linie Basel, Baselland und einigen ehrbaren Nachbarn, seine Unabhängigkeit. Rauschenplatt aber, der, die Götter wissen wie, in jenem Thale aufgetaucht war, wurde der unsterbliche Lykurg der Lacedämonier von Dipflingen, Gesetzgeber und Volkstribun zugleich, an der Seite des einflußreichsten Wirthes jenes bescheidenen freien Reichsdorfes. Allein „der Wahn war kurz“. Getragen von neunundfünfzig Bürgern, brach bald darauf eine mächtige Gegenrevolution aus, Rauschenplatt und der heldenmüthige Gestwirth stürzten. Beide wendeten dem undankbaren Freistaate, den sie geschaffen, in stiller Resignation den Rücken. Unbehindert schlugen sie am 27. Mai desselben Jahres den Freiheitsbaum nieder, den sie gesetzt, luden ihn auf einen Wagen und fuhren so mit dem längsten Zeugen ihrer kurzen Größe unbehelligt zum Dorfe hinaus. Der Wirth leitete das Fuhrwerk, Rauschenplatt deckte mit Waidtasche und Stutzen bewaffnet den Rückzug und das Ende der Republik Dipflingen. So haben auch die ernstesten Zeiten ihre heiteren Punkte. –

Kehren wir nun zu unserm Grenchenbade und seinen länderflüchtigen Besuchern zurück. Später als Mazzini, Ruffini, Schüler, Mathy, Harro Harring, Rauschenplatt und Andere,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_380.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)