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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

keinen eigentlich geistlichen Stand. Jeder Jude kann, ohne besondere Weihe, Rabbiner werden und wieder dem Rabbinat entsagen.

Wenn sich nun bei den Ehezwisten die Bemühungen des Rabbiners unzulänglich erwiesen, so wurde zur Scheidung geschritten. Die Ehescheidungen waren nicht sehr selten und wurden in der Synagoge vollzogen.

Die Mädchen wurden nicht streng überwacht, Sie durften ohne Begleitung ausgehen; sie mißbrauchten jedoch diese Freiheit nicht. Ein Mädchen, das sich häufig auf der Straße allein sehen ließ, gefährdete ihren Ruf und wurde, mit Anspielung auf die unglückliche Tochter des Erzvaters Jacob, „Dina Läuferin“ gescholten. Bei den Ehebündnissen wurde viel weniger auf Geld als auf guten Ruf gesehen. In eine Familie zu treten, die bedeutende Gelehrte und notorisch fromme Männer hervorgebracht, wurde für keine geringe Ehre gehalten. Die Aristokratie unter damaligen Juden hatte ihre langen Stammbäume, und man nannte mit Stolz die Männer, die durch ihre Schriften hervorgeragt, durch Wohlthun sich ausgezeichnet oder durch ihren Tod für den Glauben ein glänzendes Beispiel gegeben. Da solche Namen unter den Juden aller Länder bekannt waren, so wurden diejenigen, die sich der Abstammung von glorreichen Männern rühmen konnten, überall bereitwilligst aufgenommen. Waren nun zwei Familienväter von solch ruhmwürdiger Abkunft, so suchten sie durch die Verbindung ihrer Kinder ihren Stamm noch mehr zu veredeln, und nicht selten geschah es, daß die Sprößlinge, die noch in den Windeln zappelten, verlobt wurden. Das Brautpaar in der Wiege ließ sich drei Lustren später ohne Sträuben an den Traualtar führen, und diese Ehen waren bei den damaligen patriarchalischen Verhältnissen nichts weniger als unglücklich. Die Ehen werden im Himmel geschlossen, sagte man sich, und indem man den lieben Gott zum Eheprocurator machte, fügte man sich ergebungsvoll in dessen Schickung und beschwichtigte das geheime Grollen des Herzens durch das Bewußtsein gewissenhafter Pflichterfüllung.

Und der Pflichten gab es genug zu erfüllen. In der Haushaltung waren tausend rabbinische Vorschriften streng zu beobachten und sie erheischten eine unausgesetzte Ueberwachung. Der Topf, der auf dem Markte gekauft worden, mußte erst in fließendes Wasser getaucht werden, bevor er benutzt werden konnte, und kam er in die Küche, so mußte er höchst sorgfältig von einem großen Theile seiner Mittöpfe abgesondert werden. Die Töpfe nämlich, die zu Fleischspeisen dienten, durfte man niemals für Milchspeisen verwenden. Eine Verwechslung dieser Geschirre machte die Speisen unbrauchbar und brachte in die Wirthschaft eine unbeschreibliche Verwirrung, die nur durch unablässiges Glühen, Waschen und Scheuern wieder beseitigt werden konnte. Man durfte niemals mit Sicherheit darauf rechnen, das Geflügel, das gackernd und schnatternd im Hofe herumlief, einst auf dem Tische zu sehen. Wenn der Schlächter mit dem Messer nicht tief genug oder etwas zu tief in den Hals des Thieres einschnitt, so war dasselbe dem Genuß entzogen. War es tadellos abgeschlachtet, so konnte sich doch beim Ausweiden desselben ein Unglück ereignen. Sobald man nämlich irgend eine Abnormität an den Geweiden fand, mußte das Thier sogleich zu einem Rabbiner geschafft werden, der die Befugniß hatte, über solche Angelegenheiten zu entscheiden. Er untersuchte höchst sorgfältig die Abnormität, und sprach er das verhängnißvolle „Trepha“ (ungenießbar) aus, so war der Genuß des betreffenden Thieres untersagt. Es ereignete sich nicht selten, daß man sich auf eine gebratene Gans freute und mit einem magern Fisch fürliebnehmen mußte, weil die Gans durch einen verdächtigen Fleck an der Leber oder eine Verhärtung am Magen von dem Rabbiner als „Trepha“ erklärt worden. Solche Fälle konnten sich ereignen, wenn man Gäste zu Tisch geladen, was dann die arme Hausfrau in keine geringe Verlegenheit setzte. Der Talmud, der sich um die geringfügigsten culinarischen Angelegenheiten kümmert und den Küchenherd streng überwacht, machte den jüdischen Hausfrauen das Leben recht sauer, und sie schwebten in steter Angst, besonders an Sonnabenden. Da nämlich den Juden untersagt ist, Küchenfeuer am Sabbath zu unterhalten, so wurden die Speisen am Freitag in wohlverschlossenen Töpfen, auf denen der Name der Eigenthümer mit Kreide geschrieben war, zu den jüdischen Bäckern geschickt und am folgenden Mittag von der Magd abgeholt. Nun sahen sich aber die Töpfe sehr ähnlich; dazu kam noch, daß der Ofenruß nicht selten die mit Kreide geschriebenen Namen unleserlich machte; die Töpfe wurden daher häufig vertauscht, so daß der Arme die delicaten Speisen des Reichen bekam und dieser sich mit der dünnen Kost des Armen begnügen mußte. War der Ofen übermäßig geheizt, so fand man bei der Oeffnung der Geschirre, die vierundzwanzig Stunden im Ofen zugebracht, verkohlte und völlig ungenießbare Speisen. Es konnte auch vorkommen, daß die Speisen einer jüdischen Familie, die im Geruche der Aufklärerei stand und sich in Bezug auf die talmudischen Vorschriften manche Freiheiten erlaubte, im Backofen sich befanden. Eine fromme Familie, die dies erfuhr, berührte dann die eigenen Speisen nicht, aus Furcht, daß die aufgeklärten Töpfe den orthodoxen Töpfen zu nahe gekommen sein könnten. Es kam sogar vor, daß ein Christ einen mit Schweinefleisch gefüllten Topf in einen jüdischen Backofen einzuschmuggeln wußte und durch diesen leidigen Spaß den ganzen Inhalt des Ofens, Speise und Geschirr, ungenießbar und unbrauchbar machte.

Außer den Rabbinern erschwerten auch noch die Kabbalisten den jüdischen Frauen das Dasein durch tausend Vorschriften, über deren Grund man sich oft umsonst den Kopf zerbrach. Eine dieser Vorschriften, die ich meine Großmutter gewissenhaft erfüllen sah, ist mysteriös genug und hat meine Neugierde nicht wenig gefoltert. Alle drei Monate, und zwar zur Zeit der Nachtgleichen und Sonnenwenden, öffnete die fromme Matrone sämmtliche Speiseschränke und legte auf die mit rohen feuchten Speisen oder Flüssigkeiten gefüllten Töpfe, Flaschen und sonstige Geschirre verrostete Nägel, alte Schlüssel und was sie an unbrauchbarem Eisen zur Hand hatte. Als ich sie nach der Ursache dieses Gebrauchs fragte, antwortete sie, dies geschehe, damit kein Blutstropfen auf die Nahrungsmittel falle. Weiter ging ihre Gelehrsamkeit nicht, und ich war so klug wie zuvor. Viele Jahre später erfuhr ich erst, daß diese kabbalistische Vorschrift zuvörderst auf dem Aberglauben beruhe, daß bei dem Beginn jeder der vier Jahreszeiten aus den oberen Luftschichten ein die Gesundheit bedrohender Blutstropfen falle, das Eisen aber die Kraft besitze, denselben unschädlich zu machen. Aber auch die Blutplage in Aegypten, das Geschick der Tochter Jephta’s und sogar der Adonis-Mythus spielen eine Rolle in diesem Aberglauben, den die Kabbalisten durch allerlei etymologische und meteorologische Firlefanzereien unter die zu beobachtenden Gebräuche eingeschwärzt und den Judenfeinden einst einen bequemen Grund zu neuen Verdächtigungen gegeben.

Man sieht, wie sauer den Juden die Tafelfreuden wurden und welche Mühe und Noth sie den frommen Hausfrauen verursachten. Dazu kamen noch die vielen langen Gebete, die sie verrichten mußten und die sehr viel Zeit raubten. Man konnte keinen Bissen Brod, keinen Schluck Wasser genießen, ohne sich vor und nach dem Genusse desselben durch ein Gebet mit dem Himmel abzufinden. Außerdem mußte eine fromme Frau auch die Gebete ihrer Kinder, besonders der Töchter, überwachen. Auch die Werke der Wohlthätigkeit nahmen ihre Zeit in Anspruch. Verschämten Armen mußte geholfen, dürftige Kranke mußten besucht und gepflegt, Familien, denen der Tod ein Mitglied geraubt, mußte Trost gespendet werden. Die Wohlthätigkeit wurde im Stillen geübt; doch betraute man nicht selten die Kinder mit der Ausführung derselben, um sie selbst an Mildthätigkeit zu gewöhnen.

So floß das Leben dieser Frauen in der gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflichten ruhig und einförmig dahin. Indessen hatten sie doch auch ihren Ehrgeiz, und dieser bestand darin, die männlichen Nachkommen ihrer Familie als große Schriftgelehrte zu sehen. Meine Großmutter, von der ich eben spreche, hegte keinen innigeren, keinen heißeren Wunsch, als mich, ihr ältestes männliches Enkelkind, einst als solch herrliche Leuchte in Israel glänzen zu sehen. Sie ließ mich nie von ihrer Seite. Wenn sie sich mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen unterhielt, saß ich immer auf einem Bänkchen zu ihren Füßen, und so oft sie im Gespräch irgend eine Behauptung auf’s Kräftigste und Unwiderleglichste darthun wollte, unterließ sie es niemals, die Hände auf meinen Kopf zu legen und dabei feierlichst auszurufen: „So wahr soll ich Dich ‚darschenen‘ (predigen) hören!“

Keiner der großen Schriftgelehrten wurde so oft von den Juden genannt, wie Hillel. Kein Anderer erfreute sich einer solchen Popularität und wurde so oft der Jugend als nachzuahmendes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_393.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)