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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Ich bin der Dalles (Armuth),“ sagte Jener. „Wer mich unvorsichtig beherbergt, dessen Haus verlasse ich so leicht nicht wieder; ich wachse schnell heran zu einem Riesen, und Riesenkräfte gehören dazu, mich wieder loszuwerden.“ –

Sehr fesselnd waren auch für mich die Geschichten von dem König Og zu Basan, der ein solcher Riese war, daß seine Fußsohlen eine Länge von zehn Meilen hatten. Sein Appetit stand im Verhältniß zu seiner Körperstärke. Es wird von ihm erzählt, daß er im Dienste des Erzvaters Abraham gestanden, und als dieser ihn einst zornig anfuhr, fiel dem armen Og vor Angst ein Zahn aus. Der fromme Erzvater, der einen praktischen Sinn hatte, ließ sich aus diesem Zahn einen Armsessel, oder wie Andere behaupten, eine Bettlade machen.

„Die Bibel sagt dies nicht,“ warf ich ein.

„Die Bibel sagt dies nicht, aber die Rabbiner sagen es.“

„Wie so wissen es die Rabbiner?“ fragte ich.

„Wenn sie es nicht wüßten, würden sie es gewiß nicht sagen,“ antwortete meine Großmutter.

Sehr häufig erzählte sie mir auch von Napoleon und führte ihn mir als Exempel an, wie weit es ein Mann, wenn auch von der niedrigsten Abkunft, durch Genie und Fleiß bringen kann. Sie sagte mir nämlich, daß Napoleon’s Vater ein armer Schuster gewesen, der für die Erziehung seines Sohnes nichts habe thun können, und der Sohn sei doch Kaiser geworden und habe die ganze Welt beherrscht. „Wenn es nun ein Schustersohn durch Entwicklung seiner geistigen Anlagen so weit bringen kann,“ setzte sie ernst hinzu, „wie weit kann es erst ein Mensch bringen, der zu seiner Familie die größten und berühmtesten Talmudisten zählt!“

„Kann der auch Kaiser werden?“ fragte ich.

„Nein, mein Sohn!“ erwiderte sie. „Wir leben im Exil und werden überall verfolgt. Aber Du weißt, es giebt viererlei Kronen: die Krone des Königthums, die Krone des Priesterthums, die Krone des Gesetzes und endlich die schönste und herrlichste aller Kronen – die Krone eines guten Rufs; diese Krone kannst Du Dir erwerben.“ –

Meine andere Großmutter gehörte zu den gelehrten Frauen. Sie war in der heiligen Schrift sehr bewandert und schrieb das Hebräische geläufig und ohne orthographische Schnitzer. Sie wechselte auch Briefe mit mehreren Rabbinern aus ihrer Verwandtschaft, und diese sagten ihr zum Ruhme nach, daß sie niemals einen hebräischen Bibelvers falsch citirt habe. Es war eine stattlich gewachsene lebhafte Frau mit einem frischen, sehr regelmäßigen Gesicht. Sie stammte von sehr reichen Eltern; ihr Gatte verlor indessen die beträchtliche Mitgift, die sie ihm gebracht. Diesen Verlust ertrug sie mit Ergebung. Ein großer ebenso unerwarteter als unüberwindlicher Schmerz war ihr für ihr späteres Alter vorbehalten. Einer ihrer Sohne, der sich in Berlin niedergelassen, ging nämlich dort mit Weib und Kindern zum Christenthum über. Als die Kunde von diesem Ereigniß zu den Ohren der armen Frau und ihres Gatten drang, hüllten sich beide in Trauer. Der Sohn war für sie todt. Sie sprachen seinen Namen nicht mehr aus; es wurde seiner nicht mehr gedacht. Bald darauf siedelte ihr jüngster und geliebtester Sohn ebenfalls nach Berlin über. Dieser hing zwar sehr fest am Judenthum, unterhielt indessen doch seine Beziehungen zu dem älteren getauften Bruder. Anderthalb Decennien später kann die Frau nicht die Sehnsucht unterdrücken, ihren jüngsten Sohn wiederzusehen. Sie unternimmt die Reise nach Berlin und wird mit offenen Armen von ihm empfangen. Der Convertit, der die Ankunft seiner Mutter vernimmt, aber nicht wagt, vor ihr Antlitz zu treten, umschweift jeden Tag stundenlang das Haus seines Bruders, um die Mutter, wenn sie ausgeht, zu sehen, ohne von ihr gesehen zu werden. Da er selbst sich ihr nicht zu nähern traut, hegt er den heißen Wunsch, ihr seine Kinder vorführen zu lassen, in der Ueberzeugung, der Anblick der unschuldigen Kinder werde die Großmutter rühren und wohl auch gegen ihn das mütterliche Herz milder stimmen. Er theilt diesen Wunsch seinem jüngeren Bruder mit, und dieser führt ihr auch wirklich eines Tages die Kinder vor, ohne ein Wort zu sagen. Die ehrwürdige Matrone sieht die Kleinen und fragt, wer sie seien? Ihr jüngster Sohn nennt ihr schüchtern den Vater dieser Kinder. Sie kämpft einen Augenblick; Thränen stehen in ihren Augen. Schon breitet sie die Arme aus, die Enkel an’s Herz zu drücken, als sie plötzlich mit einem lauten „Nimmermehr!“ sich von ihnen abwendet. Die armen Kinder wurden abgeführt, und es wurde dieser Scene nicht wieder vor ihr erwähnt.

Unter den jüngeren verheiratheten Frauen gab es, wie ich schon gesagt, Manche, die sich bereitwillig dem allgemeinen Culturleben anschlossen. Sie schrieben und lasen deutsch, und suchten auch andere Belehrung, als aus den jüdisch-deutschen, streng orthodoxen Büchern zu schöpfen war. Neben Lessing’s dramatischen Schriften, unter denen Nathan der Weise am beliebtesten war, wurden auch die Werke Schiller’s stark gelesen und viele seiner Gedichte, wie die Balladen und besonders die Glocke, sogar auswendig gelernt. Auch Romane wurden bereits, freilich mehr oder minder verstohlen, gelesen; man holte sich diese geistige Nahrung aus einer Leihbibliothek, an deren Spitze ein Jude stand. Seine Glaubensgenossinnen hielten ihn in ununterbrochener Thätigkeit. Alle Bücher wurden mit Heißhunger verschlungen, und es entstand durch die verworrene Lectüre eine Halbbildung, die ihre komischen Seiten hatte. Man schnappte hochtrabende Phrasen auf und wendete sie in der Unterhaltung oder in Briefen gerade da an, wo sie wie die Faust auf’s Auge paßten. Indessen gab es doch Mehrere, deren Lectüre von unterrichteten Freunden und von der eigenen Intelligenz geleitet wurde. Wie dem aber sei, Empfänglichkeit für geistige Cultur gab sich unter diesen jüngeren Frauen auf’s Entschiedenste kund.

Diesen plötzlich erwachten Sinn für allgemeine Bildung unter den Jüdinnen wird man leichter begreifen, wenn man den Blick nach Berlin richtet und sich den Beginn der jüdischen Aufklärungsepoche vergegenwärtigt, die dort von Mendelssohn hervorgerufen worden. Kaum hatte dieser Reformator sich eine angesehene Stellung in der deutschen Literatur erobert, als sein Haus einen Mittelpunkt für die hervorragendsten Männer im Reiche des Geistes bildete. Juden und Christen fanden hier einen neutralen Boden, wo kein religiöses Vorurtheil galt und keines sich geltend machen wollte. Man sprach hier über die höchsten Interessen der Menschheit, und das Schöne und Gute, die Kalokagathia, war der unerschöpfliche Stoff der Unterhaltung. Dieser Unterhaltung wohnten nicht nur die Töchter des Hausherrn, sondern auch deren Freundinnen häufig bei. Sobald der jüdische Philosoph die Augen geschlossen, bildeten diese Damen ihrerseits Kreise, zu denen sich alle Größen der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft, ja selbst fürstliche Personen drängten. Man langweilte sich in den Palästen, und man suchte Geist und Witz im Hause der schönen Henriette Herz, der hochgebildeten Dorothea Veit, der gemüthvollen Rahel Lewin. Selbst Alexander von Humboldt nannte sein Familienschloß Tegel „Schloß Langeweile“. Er und sein Bruder Wilhelm lernten von Henriette Herz die jüdische Currentschrift, in welcher sie, ohne verrathen zu werden und das Zetergeschrei der Ihrigen zu erregen, aufrichtig bekennen durften, daß man sich in Gesellschaft jüdischer Damen besser unterhalte, als auf dem Schlosse der Väter.

Freilich war auch in diesen Kreisen nicht Alles pures Gold. Die Christen jüdelten, die Juden, oder vielmehr die Jüdinnen, christelten in denselben viel zu viel. Keiner der Männer, die sich bei den genannten Damen einfanden, hat für die Befreiung der Juden aus der langen Schmach und Unterdrückung eine Lanze gebrochen. Sie waren keine Freunde der Juden, sondern nur Freunde der schönen Jüdinnen, und es mischte sich in diesen Umgang ein muckerthümliches Element, dem man unter dem Titel „Tugendbund“ einen Schein der Heiligkeit verleihen wollte. Die Meisten von ihnen hatten keine Ueberzeugung, weder eine politische, noch eine religiöse, und ihre laxe Moral wirkte höchst nachtheilig auf die Gemüther jener Frauen, die in äußerster Sittenstrenge erzogen waren. So kam es denn, daß die ältere Tochter Mendelssohn’s, Dorothea, ihrem biedern Gatten entlief und zwei Kinder verließ, um sich dem lüderlichen, selbstsüchtigen, gesinnungslosen Friedrich Schlegel anzuschließen. Sie ging erst zur protestantischen, dann zur katholischen Kirche über und drückte ihre Lippen auf den Pantoffel Sr. Heiligkeit. Ihre Schwester Henriette begnügte sich damit, katholisch zu werden. Henriette Herz, die Seelenbraut Schleiermacher’s, verließ ebenfalls den Glauben ihrer Väter, ebenso Rahel, welcher das Judenthum widerstrebte.

Wenn nun auch die genannten Damen zum Christenthum übergingen, so geschah dies doch erst nach dem Tod ihrer Eltern; so lange diese lebten, schonten sie deren strenge Orthodoxie. In

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_396.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)