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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Ich darf wohl voraussetzen, daß die Thatsache allgemein bekannt ist, daß wir als Vermittler der Schmerzempfindung die Nerven anzusehen haben. – Die Empfindungsnerven, welche von der äußeren und inneren Oberfläche unseres Körpers ausgehend in den hinteren Strängen des Rückenmarks sich sammelnd nach dem Gehirn verlaufen, haben den Zweck und die Aufgabe, uns von den Berührungen des Körpers mit der Außenwelt und von seinem jeweiligen Befinden zu unterrichten. Bringen uns die höheren Sinnesorgane unsere Umgebung in Bezug auf ihre sichtbare Erscheinung, ihre Schallerzeugung, ihren Geschmack und ihren Geruch zum Bewußtsein, so fällt die große Zahl der übrigen Eindrücke, Tastgefühl, Temperatur und Druckempfindung, sowie die Allgemeingefühle: Müdigkeit, Hunger, Durst, Ekel, Uebelkeit etc. in das Bereich der sogenannten Tast- und sensiblen Nerven. – Alle diese aufgezählten Empfindungen gehen, wenn der Reiz, der sie veranlaßte, ein abnorm hohes Maß erreicht, in Schmerz über. Doch ist die Grenze, wo eine einfache Empfindung zur schmerzhaften wird, eine sehr wechselnde und nach den Umständen und persönlicher Empfänglichkeit völlig verschiedene.

Von der gänzlichen Schmerz- und Gefühllosigkeit, die wir bei vollständiger Durchtrennung eines Nerven oder eines Theiles des Rückenmarks finden, bis zu der so abnorm gesteigerten Reizbarkeit der Hysterischen, denen jede leise Berührung den unerträglichsten Schmerz verursacht, giebt es unzählige Gradabstufungen. Eine Verletzung, die den Einen ganz gleichgültig läßt, da sie kaum von ihm bemerkt wird, preßt dem Andern laute Schmerzensäußerungen aus, und wir müssen uns wohl hüten, den persönlichen Muth und die Selbstüberwindung nach dem Verhalten, das der Einzelne bestimmten Schmerzenseindrücken gegenüber einhält, zu beurtheilen. Werden wir etwa den Heldenmuth des unglücklichen Gelähmten preisen, der, weil er es nicht fühlt, sich ohne Schmerzensäußerungen den Rücken verbrennen läßt? Ebensowenig dürfen wir ohne Weiteres den an Erschöpfung und Ueberreizung des Nervensystems Leidenden verurtheilen, wenn er bei verhältnißmäßig leichten Eingriffen über heftige Schmerzen klagt. Durch tapferes Ueberwinden dieser Schmerzen, die dem kräftigen robusten Manne unbegreiflich sind, kann Jener bewunderungswürdiger erscheinen, als der von Natur weniger Empfindliche, der eine schwere Operation an sich vollziehen läßt, ohne zu schreien.

Es giebt eine große Reihe von Zuständen, die den Schmerz minder empfindlich machen und ihm so zu sagen seine Schärfe rauben, indem sie auf das Gehirn, auf unser Vorstellungsleben einen bestimmten Einfluß ausüben, und wüßten wir es nicht anderweitig, so könnten wir allein daraus den Schluß ziehen, daß das Gehirn die Stätte ist, wo der Schmerz empfunden wird. Durchschneiden wir einen Nerven und setzen ihn so außer Zusammenhang mit dem Gehirn, so können wir sein äußerstes, abgetrenntes Ende, so viel wir wollen, reizen und maltraitiren – es wird keine Spur von Schmerzempfindung dadurch hervorgerufen. Berühren wir dagegen den mit dem Gehirn noch in Zusammenhang stehenden Nervenstumpf, so treten augenblicklich die lebhaftesten Schmerzen auf. Nicht der Nerv selbst ist also die Stätte der Schmerzempfindung; er ist nur der Vermittler, der Leiter, der die empfangene Reizung auf die Gehirnzellen, mit denen er in Zusammenhang steht, überträgt. An welcher Stelle des Gehirns die Wahrnehmung des Schmerzes stattfindet, hat sich bis jetzt durch Untersuchungen noch nicht feststellen lassen; jedenfalls aber übt die gesammte Thätigkeit des Gehirns, sein Allgemeinzustand einen großen Einfluß auf die Schmerzempfindlichkeit aus.

Es ist eine durch exacte Untersuchungen festgestellte Thatsache, daß wir nicht im Stande sind, zu gleicher Zeit zwei verschiedene Empfindungen wahrzunehmen. Die Wahrnehmungsfähigkeit, die unserem Gehirne innewohnt, kann sich jedes Mal nur nach einem Punkte hinwenden, so wie wir etwa mit unseren Augen nur gerade aus und nicht in derselben Zeit auch hinter uns und zur Seite sehen können. Vorzüglich dann, wenn unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt gerichtet ist, entgeht uns völlig das, was außerdem noch um uns geschieht.

Wenn unsere Aufmerksamkeit mit einer gewissen Spannung auf einen Gegenstand oder auf eine Vorstellung gerichtet ist, so kann erst dann eine andere Empfindung, eine andere Vorstellung uns zum Bewußtsein kommen, wenn jene erste gewissermaßen unterdrückt oder verblaßt ist. Hat dieselbe eine solche Zähigkeit und Kraft, daß sie sich nicht leicht verdrängen läßt, so verhindert sie damit die Aufnahme anderer Empfindungen. Und aus diesem Grunde kann oft eine selbst gewaltsame Reizung unserer Nerven, die unter anderen Umständen eine lebhafte Schmerzempfindung hervorgerufen hätte, uns völlig unbemerkt bleiben.

Der Soldat, der im gespannten Eifer des Gefechts auf den Feind eindringt und seine volle Aufmerksamkeit darauf richtet, wie er denselben am geschicktesten angreifen könne, empfindet sehr oft von einer Kugel, die von einer anderen Seite her ihn verwundet, keine Spur. Indem sich die ganze Kraft seines Bewußtseins auf den vor ihm stehenden Gegner concentrirt, vermag selbst eine so heftige Verletzung nicht in dasselbe einzudringen. Erst dann, wenn er den Feind erlegt oder sich sonst von ihm abgewandt hat, kommt plötzlich jener Schmerz zum Bewußtsein und er kann oft gar nicht angeben, wann er die Verletzung erhalten hat. In ähnlicher Weise kann ein Schmerz, den wir empfinden, dadurch unterbrochen werden, daß plötzlich eine andere Empfindung oder Vorstellung, die eine größere Kraft auf unsere Aufmerksamkeit auszuüben und diese in höherem Grade zu fesseln vermag, in unser Bewußtsein eintritt.

Ich erinnere nur an die hierhergehörige und gewiß Allen bekannte Thatsache, daß wir oft absichtlich einen uns besonders unangenehmen Schmerz durch einen größeren zu übertäuben suchen. Wir machen davon namentlich bei den durch ihr unausgesetztes Nagen an den Nerven so peinlichen Zahnschmerzen Gebrauch, und eine große Reihe der allgemein dagegen üblichen Mittel hat eben den Zweck, die Aufmerksamkeit durch einen an einer anderen Körperstelle erregten heftigeren Schmerz von den Zahnschmerzen abzulenken. Wir reiben uns Senfspiritus auf die Backe, tröpfeln uns scharfe, beißende Tropfen in’s Ohr, ja wir beißen uns sogar in den Finger oder kneifen uns kräftig in die Haut – und das Alles thun wir, um einen Schmerz durch den anderen zu vertreiben.

Auch andere plötzliche Wahrnehmungen wirken in gleicher Weise. Eine plötzliche Nachricht, die uns in hohem Grade, sei’s freudig, sei’s traurig, überrascht, bringt nicht selten einen heftigen Schmerz zum Schweigen. Ueberhaupt Alles, wie schon gesagt, was unsere Aufmerksamkeit lebhaft in Anspruch nimmt, z. B. eine angenehme Unterhaltung, läßt uns oft einen (nicht allzuheftigen) Schmerz vergessen. Auch hierfür geben uns die gar so allgemein bekannten Zahnschmerzen ein reiches Beobachtungsmaterial. Die Schmerzen werden ferner sehr leicht in den Hintergrund gedrängt, wenn andere peinliche Erwartungszustände unseren Geist in Beschlag nehmen. Der Entschluß, daß wir uns den Zahn wollen ausziehen lassen, der Gang zum Zahnarzt, während dessen wir mit großer Lebhaftigkeit uns die unangenehme Empfindung dieser Operation vorstellen, hat schon in tausend Fällen als bestes Schmerzlinderungsmittel gewirkt. Während wir pochenden Herzens den Klingelzug vor der Thür des gefürchteten Mannes ergreifen wollen, ist der Schmerz plötzlich verschwunden und wir kehren ruhig wieder nach Hause zurück – freilich nicht selten, um von Neuem von dem alten Leiden überfallen zu werden. So wie die Furcht und schreckhafte Erwartung wirkt aber auch der umgekehrte Zustand des vollen Vertrauens und der glaubensmuthigen Hoffnung. Schon manche Schmerzen sind durch Handauflegen, Zauberformeln, Riechen an unschädlichen homöopathischen Heilmitteln und dergleichen Hocuspocus beseitigt worden, wenn der Gequälte eben nur volles Vertrauen zu diesen Mitteln hatte oder mit einiger Spannung und Neugier ihre Wirksamkeit prüfen wollte.

Wie die lebhafte Erregung sittlicher Gefühle, des Ehrgeizes und der Ruhmsucht abstumpfend auf die Schmerzempfindlichkeit wirken kann, das lehrt unter Anderem das Beispiel jenes Mucius Scaevola, der, erfüllt von echtem Römerstolze, kalten Blutes seinen Arm über ein Kohlenfeuer ausstreckte und, ohne eine Miene zu verziehen, denselben verbrennen ließ. Die christlichen Märtyrer, die von religiöser Schwärmerei erfüllt sich quälen und martern ließen, waren offenbar in derselben Lage. Die Freudigkeit, mit der sie die grausamsten Folterqualen überstanden, die Wollust des Schmerzes, so zu sagen, die sie empfanden, beweist, daß durch jene idealen Vorstellungen ihr Gemüth stärker erregt wurde, als durch die auf ihre Empfindungsnerven ausgeübten Reize. Es kommt in diesen Fällen noch eine andere mächtige Triebfeder hinzu, die durch ihre starke Spannung allen anderen Wahrnehmungen den Eintritt in das Bewußtsein versperrt: nämlich die Nachahmungssucht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_409.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)