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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

‚Ich werde Dich zu finden wissen,‘ rief er mir nach. ‚Auf Wiedersehen!‘

Schon nach einigen Tagen lauerte er wir wieder auf und stellte abermals an mich dasselbe Begehren. Ich würdigte ihn keiner Antwort und eilte nach meiner Wohnung. Meine so lange ersehnte Ruhe war dahin. Mein Schicksal lag jetzt in den Händen des Verruchten, der mich am folgenden Morgen aus der Werkstätte rufen ließ und mir grinsend sagte, daß er mich Ihnen sogleich verrathen würde, wenn ich mich nicht mit ihm abfände. Wieder gab ich ihm, was ich besaß. Seine Besuche häuften sich, und was ich sauer verdiente, ging in seine Hände. Seine Einladungen, mich ihm anzuschließen und zum Diebe zu werden, wurden immer dringender und führten zu langen Unterredungen, die mich von der Arbeit zurückhielten. Ich erregte Ihre Unzufriedenheit und war in Verzweiflung. Wie oft wollte ich Ihnen, der Sie so wohlwollend gegen mich waren, Alles bekennen! Allein ich schauderte vor dem Schritte zurück, welcher Ihnen in dem Arbeiter, den Sie schätzten, einen entlassenen Galeerensträfling enthüllen sollte. Am Ende aber wurde mir das Verhältniß Ihnen gegenüber unerträglich. Ihr gegenwärtiger Besuch hat mich zur Entscheidung gedrängt.

Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen und scheide jetzt aus Ihrem Hause, um es nicht wieder zu betreten; seien Sie aber überzeugt, daß ich die Güte, die Sie mir bewiesen, niemals vergessen werde.‘

Er schwieg und wollte gehen. Mein Vater, auf’s Tiefste ergriffen und von Mitleid mit dem Unglücklichen bewegt, hielt ihn jedoch zurück.

‚Verlassen Sie nicht meine Fabrik,‘ sagte er ihm, ‚wo Ihnen ein Stück ehrlich erworbenes Brod gesichert ist, und stürzen Sie sich nicht in die Welt hinaus, wo Ihnen vielleicht nur die furchtbare Wahl zwischen Verbrechen und Selbstmord übrig bleibt. Versprechen Sie mir, sich morgen wieder zur Arbeit einzustellen, und lassen Sie mich für das Weitere sorgen.‘

Fleurant wollte noch einige Einwendungen machen; mein Vater drang ihm aber endlich das Versprechen ab und zog sich in sein Zimmer zurück, wo er eine schlaflose Nacht verbrachte. Am folgenden Morgen trug er seinem Bedienten auf, sorgfältig aufzupassen und ihn gleich davon zu benachrichtigen, wenn ein Mensch sich einstellte und nach Fleurant fragte, Diesem aber nichts davon zu sagen.

Fleurant kam am nächsten Tage zur Arbeit und wurde während einer Woche nicht weiter behelligt. Eines Nachmittags aber kündigte der Bediente meinem Vater an, daß der Mann, der so oft Fleurant besucht hatte, Diesen im Hofgange erwarte.

Mein Vater begab sich schnell in den Gang, und indem er dicht vor den unheimlichen Menschen trat, sagte er ihm: ‚Ich weiß, wer Ihr seid und was Euch zu diesem Besuche veranlaßt. Es hängt von mir ab, Euch sogleich den Händen der Justiz zu überliefern. Ich will Euch jedoch schonen. Merkt Euch aber, daß, wenn Ihr diese Schwelle wieder betretet oder sonstwo Euch Fleurant nähert, Ihr sogleich das lose Gewerbe zwischen dicken Mauern bereuen werdet!‘

Mit einem unverschämten höhnischen Blicke und mit einem leichten Achselzucken ging der Bursche seines Weges, und mein Vater war, wie er mir später selbst sagte, sehr zufrieden, ihn auf die erwähnte Weise abgefertigt zu haben. Er sah aber zu seinem tiefsten Leidwesen allzu bald, daß er sich überstürzt hatte; denn schon am andern Morgen theilte ihm sein Werkmeister mit, daß mehrere Arbeiter am gestrigen Abende durch einen Unbekannten die Vergangenheit Fleurant’s erfahren; jetzt wüßten es auch die Uebrigen und seien entschlossen, die Arbeit einzustellen, wenn er nicht sogleich entlassen würde. Die Verlegenheit meines Vaters war groß, und ohne zu wissen, welche Maßregeln er ergreifen müsse, um sich die Arbeiter zu erhalten und zugleich Fleurant nicht der Verzweiflung auszusetzen, befahl er dem Werkmeister, die Leute mit der Versicherung zu beruhigen, daß Alles zu ihrer Genugthuung geschehen würde.

Mein Vater, der den Unglücklichen hatte retten wollen, machte sich die bittersten Vorwürfe und malte sich dessen verzweiflungsvolle Lage mit den schwärzesten Farben aus. Während er nun am Abende in seinem kleinen Schreibzimmer sich der äußersten Niedergeschlagenheit überließ, trat Fleurant ein.

‚Sie wissen, daß der Niederträchtige mich verrathen,‘ begann er. ‚Ich habe die Werkstatt verlassen; aber bevor ich auf immer aus Ihrem Hause scheide, will ich Ihnen für die Theilnahme danken, die Sie mir bewiesen. Ich werde Ihre Menschenfreundlichkeit niemals vergessen.‘

Er wollte gehen.

‚Ich kann Sie so nicht scheiden lassen, Fleurant,‘ sagte mein Vater. ‚Ich habe mir Vorwürfe zu machen; denn ich habe unüberlegt gehandelt, und anstatt Sie zu retten, habe ich Sie vielleicht dem Untergange preisgegeben. Was gedenken Sie jetzt zu thun?‘

‚Ich weiß nicht,‘ erwiderte er, indem sein Gesicht sich verfinsterte.

‚Das ist’s eben, was mich beunruhigt,‘ sagte mein Vater. ‚Hier ist Ihres Bleibens nicht mehr,‘ fuhr er fort. ‚Gehen Sie nach der neuen Welt. Sie sind ein vortrefflicher Arbeiter und werden dort bald ein Unterkommen finden. Vielleicht gelingt es Ihnen dort, sich auf eigene Füße zu stellen. Nehmen Sie diese Summe, die Ihnen die Reise möglich machen wird.‘

Fleurant weigerte sich, das Geld anzunehmen, indem er bemerkte, daß er nicht entschlossen zu dieser Reise sei, und erst nach einer langen Unterredung nahm er es als Darlehn an. ‚Ich bin Ihr Schuldner,‘ sagte er, ‚und ich weiß nicht, ob ich jemals im Stande sein werde, diese Schuld abzutragen. Ich schwöre Ihnen aber, daß ich niemals, wie düster auch meine Zukunft sein möge, mich zu einem Verbrechen werde hinreißen lassen. Ich habe nur noch eine Bitte. Erlauben Sie mir, Ihnen schriftlich oder mündlich von mir Nachricht zu geben?‘

‚Mein Haus wird niemals einem rechtschaffenen Manne verschlossen sein,‘ sagte mein Vater.

‚Und nur als solchen werden Sie mich wiedersehen, wenn Sie mich jemals wiedersehen,‘ betheuerte Fleurant. –

Mehrere Monate verstrichen. Alles ging wieder in meinem väterlichen Hause seinen geregelten Gang. Mein Vater war überzeugt, daß Fleurant nach Amerika gegangen, als dieser eines Abends in’s Schreibzimmer meines Vaters trat.

‚Sie sind noch immer hier?‘ rief mein Vater erstaunt.

‚Ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen,‘ sagte Fleurant, indem er eine Geldrolle auf das Schreibpult legte. ‚Das ist indessen blos die Geldschuld,‘ fügte er hinzu; ‚denn was das Wohlwollen betrifft, das Sie mir bezeigt haben, dafür werde ich immer Ihr Schuldner bleiben.‘

‚Sie haben also ein Unterkommen gefunden?‘ fragte mein Vater.

‚Seit drei Monaten bin ich in der Brigade de Sureté angestellt.‘

Mein Vater fuhr erschrocken vom Sessel auf.

Die ‚Brigade de Sureté‘ war nämlich eine aus entlassenen Dieben und sonstigen abgefeimten Sträflingen zusammengesetzte Sicherheitspolizei, die unter dem Befehl des berüchtigten Vidocq stand und deren Späheraugen kein Verbrecher leicht entging.

‚Ich hätte Ihnen meine jetzige Thätigkeit verschweigen können,‘ sagte Fleurant, die Empfindung meines Vaters bemerkend; ‚allein ich achte, ich verehre Sie viel zu sehr, als daß ich Ihnen nicht die lautere Wahrheit gestehen sollte. Das Amt, das ich jetzt versehe, erstreckt sich indessen nicht auf Taschendiebe; noch viel weniger verstehe ich mich dazu, politische Gespräche zu belauschen und den Mouchard zu machen. Ich fahnde blos auf jene entlassenen, unverbesserlichen Galeerensträflinge, die sich in Paris herumtreiben, die Unglücklichen ausbeuten, die mit ihnen in den Bagnos gewesen, und diese vom Wege der Besserung abhalten und wieder zum Verbrechen verleiten wollen. Ich leiste dadurch der Gesellschaft einen Dienst und befriedige dabei – ich will es offen gestehen – ein unwiderstehliches Rachegefühl.‘

‚Sind Sie dem Menschen auf die Spur gekommen, der Sie aus meinem Hause trieb?‘ fragte mein Vater.

‚Sein Handwerk ist ihm gelegt. Er ist bereits seit drei Wochen in festem Gewahrsam und wird wohl eine lange Reihe von Jahren in demselben verbleiben,‘ sagte Fleurant.

‚Und fürchten Sie in Ihrer jetzigen Laufbahn nichts für Ihr Leben?‘ fragte mein Vater wiederum.

‚Ich bin stark und nicht ohne Waffen,‘ erwiderte Jener, einen langen Dolch aus einer Seitentasche ziehend.

‚Es ist doch kein Blut daran?‘ rief mein Vater entsetzt.

Bis jetzt noch nicht,‘ antwortete Fleurant.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_440.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)