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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Daveland ein Recht, sich Schlüsse daraus zu ziehen, die ihn mit einem unendlichen inneren Glück erfüllen mußten. Durch den bloßen Gedanken, den bloßen Verdacht, seine Sicherheit könne bedroht sein, hatte sich Valentine von einer ganz namenlosen Angst erfüllt gezeigt; sie hatte sich gar nicht gescheut, diese Sorge um ihn in ihrem ganzen Umfange zu verrathen; sie hatte rücksichtslos und ohne sich zu besinnen sofort das entschiedenste Mittel ergriffen, um ihn in Sicherheit zu bringen; in ihrer Noth um ihn hatte sie nichts gefürchtet, weder die Nacht, noch den Regen, noch die weite Wanderung durch eine wahre Bergwildniß; sie hatte keine Scheu gekannt, kein anderer Gedanke war mehr in ihr gewesen, als die Sorge um seine Sicherheit; kein Gedanke an Das, was sie that, indem sie mit dem fremden Manne, dem feindlichen Officier, allein in die Nacht und die Wildniß hinauseilte; die Urtheile der Ihrigen darüber, die Kritik der Welt, wenn es bekannt würde, hatten sie nicht gekümmert … sie hatte Niemand anders, nicht ihrem Vater einmal, die Sicherung Maxens überlassen wollen, nur sich selber hatte sie dabei vertraut, und für nichts Anderes mehr Sinn gehabt, als daß er in Gefahr schwebe!

Max fühlte sein Herz höher und höher schlagen, indem er zu diesen Gedanken zurückkehrte. Er wäre im Hochgefühle seines Glücks in diesem Augenblick bereit gewesen, alle Diamanten aller Großmütter der Welt darum zu geben, wenn er die Thorheit nicht begangen, sich so offen gegen Gaston auszusprechen. Was ihn dazu angetrieben, die Absicht, Gaston’s Verzicht auf Valentine zu erreichen, war ja jetzt auch gar kein Motiv für ihn mehr; er hatte Valentinens Neigung gewonnen, in einem Grade, daß sie sich gar nicht mehr gescheut, sie ihm, ja der ganzen Welt zu verrathen. Was bedurfte es da noch solcher Hebel, um Gaston zu entfernen – ach, alle solche Mittel kamen ihm in diesem Augenblicke eben so klein und verächtlich vor, wie er sich selber, er, der ja etwas war, wie eine Schlange, die Herr d’Avelon an seinem Busen zu ernähren begonnen. Es ließ ihn nicht länger ruhen. Er hatte in Gaston’s Hände den Ruf, beinahe die ganze Existenz d’Avelon’s gelegt; er mußte das gut machen auf irgend eine Weise: er mußte widerrufen, was er gesagt, er mußte Gaston erklären, daß er seine Behauptung zurücknehme, daß er sie als Irrthum eingesehen! Max sprang auf und warf sich in seine Kleider. Er hatte auf dem runden Tische mitten im Gemach Schreibzeug gesehen, er war entschlossen, Gaston eine schriftliche Erklärung, daß er sich geirrt, zu geben, sie zurückzulassen und dann im ersten Grauen der Dämmerung dies Schloß Givres zu verlassen, in welchem er alsdann ja weiter nichts zu thun hatte, in das er sich doch am Ende sehr unvorsichtig hatte locken lassen … Beweise und Briefe über d’Avelon’s Herkunft aus Belgien oder Frankreich konnten ja nicht da sein, und wenn Gaston – warum war ihm der Gedanke nicht eher gekommen? – sie zu besitzen vorgab, lag dann nicht nahe, daß dieser Herr von Ribeaupierre ihn nur nach Schloß Givres zu locken beabsichtigt habe? Wahrhaftig, es war besser, Max schlug den Rückweg ein so bald wie möglich!

Er hatte das Licht angezündet und schrieb rasch die Erklärung nieder, die er Gaston zurücklassen wollte. Sie sollte gründlich alle Gefahr entfernen, in die er d’Avelon durch sein unvorsichtiges Geständniß gebracht.

Er schrieb: „Ich bin sehr betroffen, ja beschämt, durch eine Erinnerung, die mir eben gekommen ist. Mir ist einst von den Meinigen wiederholt erzählt worden, daß die Person, welche ich wiedergefunden zu haben glaubte, als junger Mensch durch ein unvorsichtiges Gebahren mit einer Jagdflinte die zwei unteren Glieder des kleinen Fingers der linken Hand verlor. Der Herr, von dem wir sprachen, besitzt eine durchaus unverstümmelte Hand. Ich bin gedemüthigt durch diese Erfahrung, wie weit sich die Phantasie, wenn sie einmal eine falsche Richtung einschlug, zu verirren vermag. Da ich also auf die Vorlage Ihrer Documente völlig verzichten kann, bleibt mir nichts übrig, als für Ihre gastliche Aufnahme in dieser Nacht zu danken. M. Daveland.“

Als Max diese Zeilen in französischer Sprache niedergeschrieben hatte, war es Tag geworden. Das Morgenlicht begann von einem sich aufhellenden Horizont her so mächtig in das Gemach zu dringen, daß er sein Licht auslöschen konnte. Er trat an’s Fenster und sah, wie ein rosiges Licht auf die Wipfel der Bäume in dem das Schloß Givres auch von dieser Seite umgebenden Parke, auf die das Thal weiterhin ausfüllenden Ackerfluren und auf die bewaldeten Höhen fiel, welche es einengten und an denen feuchte Dunstwolken wie gigantische graue Wollflocken hingen, die sich an den Wipfeln der Bäume festgenestelt. Hinter den Bergen da oben mußte Neufchateau, weiter Dom Remi la Pucelle liegen – Max hatte seinen Weg gerade in der entgegengesetzten Richtung nordwärts zu suchen – er brauchte um das Finden des Wegs nicht besorgt zu sein, er hatte ja in der Nacht wahrgenommen, daß eine gut chaussirte Straße von Schloß Givres nach der Ferme des Auges führte, und über den Hof der Ferme laufend dann zu eben dem Wege wurde, auf den ihn Valentine anfangs weisen wollen, um nach Void zurückzukommen, bis ein Licht ihren Verdacht erweckt und sie bewogen hatte, ihn zur Höhle der Jungfrau zu bringen.

Max besorgte jetzt rasch seine Morgentoilette und wollte dann aufbrechen. Er bekleidete sich mit seinem Ueberzieher, schnallte den Degen um, fühlte nach dem Revolver in der Brusttasche und trat an die Thür. Die Thür war verschlossen. Er drehte am Schloß, er zog und rüttelte – aber umsonst – er war eingeschlossen.

„Verdammt!“ sagte er, leicht die Farbe wechselnd, „ich habe mich, so viel ist klar, von diesem Gaston übertölpeln lassen! Ich bin sein Gefangener. Hoffentlich nicht für lange. Es wird doch einen Ausgang aus dieser Bärenfälle – denn wie ein dummer Bär bin ich hineingegangen – geben.“

Ein gewaltsames Sprengen der Thür, mit einem Revolverschuß etwa, brächte das ganze Haus in Alarm und riefe alle seine Bewohner herbei. Es war keine Flucht möglich als durch das Fenster. Dieses lag freilich vielleicht zwanzig Fuß hoch über dem Rasen, der unten die Grundmauer des Gebäudes umgab. Man konnte nicht hinausspringen ohne Gefahr alle Glieder zu brechen. Und doch blieb kein anderer Weg übrig. Max dachte an die Geschichten von merkwürdigen Rettungen aus solchen Lagen vermittelst zerschnittener Tücher. Aber so etwas bedurfte langer Vorbereitung und er fühlte, daß die Augenblicke kostbar – der Boden in diesem französischen Schlosse, in das er sich so kopflos locken lassen, allein, weitab von den Seinen und aller Hülfe, begann ihm unter den Füßen zu brennen. Sollte er den Sprung hinunter wagen? Langsam und geräuschlos öffnete er das Fenster und blickte hinab – es war wahrhaftig ein verzweifeltes Unternehmen – es war ein schrecklicher Gedanke, mit zerschmetterten Gliedern da unten zu liegen, bis man komme, ihn in die Gefangenschaft zurückzubringen, oder – ihm den Rest zu geben! Er wandte sich geängstigt von dieser Vorstellung in das Zimmer zurück, und ließ sein Auge, suchend nach irgend einem Dinge, das Hülfe gewähren könnte, ausspähend durch alle Ecken schweifen, da – mit einem leisen Ausbruch der Befriedigung eilte er auf sein verlassenes Lager zurück, sprang darauf und löste mit rascher Hast eine dicke, in einen Quast endende blaue Seidenschnur, die von dem Betthimmel herabhing. Sie genügte vollständig. Max zog sein Messer, schnitt den Quast ab, nahm die doppelte Schnur einfach, befestigte sie an den untern Fensterhaken und schwang sich hinaus; als ehemaliger Turner hatte er nur noch eine Aufgabe, die sich wie ein Spiel lösen ließ. Nach wenig Secunden stand er unten auf festem Grund und Boden und entfernte sich nun mit einem triumphirenden Gefühl, wie leicht ihm dies Entkommen geworden, von dem Gebäude – er schritt in den schweigenden, unter den hohen Bäumen noch dunkelnden Park hinein, um nur zunächst möglichst weit aus dem Bereich des gastlichen Schlosses von Givres zu kommen.

Dann wandte er sich links. Er mußte einen ziemlich weiten Umkreis nicht scheuen, um die offene weite Rasenfläche zu vermeiden, welche vor der Vorderfronte des Schlosses lag, und im Schutze der Baumpartien und Gebüsche den Weg nach Void zu erreichen. Dabei kreuzte er eine andere Straße, die, vom Schlosse herkommend, sich nach rechts schwang und südwärts in’s Thal hinein verlief … in der Ferne glaubte er auf ihr Hufschläge zu vernehmen – als er stehen blieb, sah er, daß er sich nicht getäuscht; sie kamen näher; Max entfernte sich, seiner Richtung folgend, etwas mehr – nach einer Weile wandte er, von einem Strauchwerk gedeckt, sich zurück und sah einen Reiter vorübersprengen auf Schloß Givres zu – trotz des flatternden Regenmantels, der ihn umgab, glaubte er an der Figur Gaston von Ribeaupierre zu erkennen. Hatte dieser die Nacht auf einem Ritte zugebracht – und wohin? Max wünschte sich doppelt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_448.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)