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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

stets Acht haben soll, verleugnete sich in ihm sein Lebenlang nicht. Nie ist er, wie die meisten Landpastoren, verbauert. Auf seinen Anzug wendete er die größte Sauberkeit, und als Sonntagstracht behielt er beständig die Kleidermode seiner Jünglingszeit: einen schwarzen Frack, eine seidene kurze Hose, die mit silbernen Schnallen am Knie befestigt wurde, feine schwarzseidene Strümpfe und Schuhe, die wieder mit großen Silberschnallen und einer breiten Schleife am Fuße festsaßen. In der Kirche brauchte er nie ein Buch, das nicht in schwarzes Leder mit Goldschnitt eingebunden war. Und wenn er so in den Bäffchen und mit dem fußbreiten Streifen Taffet, der vor der Einführung des Chorrocks den Mantel der calvinistischen Pfarrer bildete, zur Kirche schritt, so war er eine strenge, stattliche Erscheinung und wurde von Jung und Alt mit Ehrfurcht begrüßt. Der Zug einer ernsten, würdevollen Strenge ging durch sein ganzes Wesen. Auch wenn er am Werkeltage die Straßen oder Baumgärten durchschritt, hörten alle Kinder zu spielen auf und stellten sich ehrerbietig aufrecht, bis er grüßend an ihnen vorübergegangen war, und das thaten nicht blos die evangelischen, sondern auch die katholischen Kinder des Ortes. Obwohl nicht hoch gewachsen, konnte er doch für einen schönen Mann gelten. Eine hohe, klare Stirn lief in eine höchst stattliche Adlernase aus, der Mund war fest, aber sehr freundlich, der Gliederbau fein und gefällig, und das mäßige, friedvolle Leben seines Berufes gab ihm noch im Alter eine frische Farbe und rüstige Kraft.

Als er mit meiner Mutter verlobt war, ist er einmal Morgens früh von Oberkassel fortgegangen und Abends, als man die Lichter anzündete, in Elberfeld bei ihr eingetroffen. Das sind sechszehn gute Stunden, immer durch Berg und Thal, und ich selbst, obwohl auch ich mehr als einmal nach derselben Richtung in Liebesangelegenheiten gewandert bin, habe ihm das niemals nachgethan. Sonst ist die Kraft des Fußwanderns bei meiner Familie einheimisch; ich selber habe mein Vaterland fast in allen seinen Theilen zu Fuße durchlaufen, und mein ältester Junge, der doch noch ein kleiner und sonst schwächlicher Kerl ist, läuft nun mit der Mutter schon auf Orte, die mehrere Stunden entfernt sind, und hat keine stärkere Leidenschaft als das Fußreisen.

Mein Vater war zweimal verheirathet, zuerst mit einer vermögenden Kaufmannstochter aus Mülheim am Rhein, mit der er nur einen Sohn hatte. Ich habe Grund zu glauben, daß diese Ehe nicht sehr glücklich gewesen ist, da die junge Frau lieber im elterlichen Hause als auf der stillen Pfarre verweilte. Mein Halbbruder Karl sollte nach dem Willen meines Vaters studiren, hatte aber am Praktischen mehr Freude und erlernte die Handlung. Er war schon erwachsen, als ich geboren wurde, und besuchte nur zuweilen noch das elterliche Haus. Damals arbeitete er beim Kataster; später, nachdem die Vermessung der Rheinprovinz beendigt war, kehrte er zur kaufmännischen Thätigkeit zurück und lebte zuletzt als Factor auf einem Blaufarbenwerk an der Ruhr. Er hat sich niemals entschlossen, ein eigenes Geschäft anzufangen oder eine Frau zu nehmen, und ich fürchte, daß er als Hagestolz sein Leben beendigen wird, das wohl durch allzustrenge Erziehung in der frühesten Jugend verletzt worden ist. Uebrigens hat er mich noch in meinem eigenen Hauswesen besucht, und mein Verhältniß zu ihm ist stets ein freundliches gewesen, wenn wir uns auch bei der verschiedenen Richtung unserer Neigungen und Berufsthätigkeiten innerlich nicht viel haben sein können. Eine kränkliche Eigenschaft meines Vaters, pedantische Ordnungsliebe und langsame Sorgfalt bei allen Geschäften, ist bei diesem Erstgebornen zum stehenden Charakterzug geworden; ich habe es selbst einmal, als ich ihn besuchte, erlebt, daß er zu einem einfachen Geschäftsbrief, der in einer Viertelstunde abzumachen war, mit Linienziehen, Schreiben, Eintragen in’s Copirbuch, Couvertschneiden und Siegeln einen Vor- und Nachmittag gebraucht hat, wobei denn allerdings nicht sonderlich viele Nummern wöchentlich sich wegarbeiten lassen.

Die zweite Frau meines Vaters war denn meine Mutter, Maria Beekmann aus dem Wupperthal. Mit ihr hatte er drei Kinder, eine Tochter Johanna, die, sechs Jahre älter als ich, mit einem Pfarrer verheirathet, als Frau und Mutter glücklich lebt, einen Sohn Gottfried, der noch klein starb, und mich, den er zum Ersatz für das gestorbene Brüderchen ebenfalls Gottfried getauft hat. So hatte ich denn das Glück, das Jüngste in der Familie zu sein und folglich gelinder als alle übrigen Geschwister erzogen zu werden. Mein Vater war nahe an sechszig Jahre, als ich ihm geboren wurde, und so habe ich in ihm nie den Freund, sondern nur den ernsten und bejahrten Lehrer und Erzieher erblicken können. Obwohl ich ihn liebte, war mein Gefühl für ihn doch mehr Furcht, und so erklärt es sich leicht, daß wir Kinder uns inniger an die viel jüngere und lebhaftere Mutter anschlossen, welche denn auch namentlich mich mit wahrhaft brennender Liebe umfaßte.

Von dieser Frau haben auch ganz fremde Personen oftmals zugestanden, daß ihr Wesen etwas Ungewöhnliches und höchst Bedeutendes an sich hatte. Die Züge ihres Charakters sind im Wesentlichen auf mich übergegangen, und es hat sich da die fast nie trügende Erscheinung bewährt, daß die Söhne der Mutter nacharten. Die revolutionäre Entschlossenheit des Sohnes war bei ihr ein himmelstürmender Wille; wie nach jenem dunkeln Mythos Jakob, rang auch sie in rastlosem Gebet mit der Gottheit, um deren Ohr ihren Wünschen gewaltthätig zuzuneigen. Mit unwiderstehlicher Kraft beherrschte sie das Hauswesen, und durch ihren Mann die ganze Gemeinde; wenn sie dabei einen Fehler gemacht hat, so war es der, daß sie ihre Herrschaft nicht zu verbergen wußte, sondern gleich einer Semiramis auch die Zeichen der Herrscherwürde für sich begehrte. Da sie meinen Vater an Willensstärke und Weltblick unendlich übertraf, so war sie die Gebieterin des Hauses, und von ihr ging namentlich die Richtung aus, die unserer Erziehung gegeben wurde. Der Charakter hatte herbe Seiten, aber mit ihnen versöhnte ihre heiße Liebe, ihre mütterliche Fürsorge für jeden Bedürftigen und eine unbestechliche Wahrhaftigkeit. Von der letzteren hat meine Frau Johanna noch einen bezeichnenden Ausdruck in ihrer Erinnerung bewahrt. Als sie einmal zum Besuche in unserem Hause verweilte, wurde ein lästiger Gast angemeldet, der die Unterhaltung störte. Jemand schlug vor, man solle hinaussagen lassen, die Familie sei nicht zu Hause. Aber das schnitt sofort meine Mutter mit den drei Worten: „Ich lüge nie“ ab, und man unterwarf sich dann geduldig der Unannehmlichkeit des Besuches. Auch diesen Zug hat meine Mutter mir als Erbtheil mitgegeben.

Die Familie dieser Frau war in dem durch seine Starkgläubigkeit berühmten Wupperthal unfern Elberfeld ansässig, wo noch heute begüterte Verwandte von uns wohnen. Der Vater war Kaufmann gewesen, hatte aber Unglück gehabt, und dabei, da er ein ehrlicher Mann war, sein ganzes Vermögen eingebüßt, so daß seine Wittwe, meine Großmutter, jetzt im Hause der Tochter mit ernährt werden mußte. Diese Großmutter hat mir die erste Ahnung von Politik beigebracht, wenn sie beim Abendessen mit dem Schwiegersohn, meinem Vater, über die Zeitung disputirte, worüber die beiden Alten stets abweichende Ansichten hatten; welcher von ihnen freilich Royalist und welcher Liberaler war, das habe ich rein vergessen. Das weiß ich aber noch, daß meine Mutter immer sagte, ich ähnle körperlich und auch in der Sinnesweise ihrem Vater sehr, als welcher ein langer, stattlicher Mann gewesen sei und einen offenen, biederen, streng rechtlichen Charakter gehabt habe. Unsere Großmutter, mit der wir Kinder wegen ihrer niederdeutschen Aussprache stets unsere Neckerei hatten, ist gestorben, als ich etwa acht Jahre alt war; sie war übrigens eine feine Stickerin, und ihre Augen sind bis in’s höchste Alter nicht matt geworden, in dieser Gattung die zierlichste Arbeit zu machen.

Und so bin ich denn von Vater und Mutter her ehrenhafter und arbeitsamer Leute Kind. Kein Tropfen vom Blute der Aristokratie oder der genießenden Stände fließt in meinen Adern, und mein günstiger Stern hat die fleißige Armuth als Wärterin an meine Wiege gestellt. Nicht durch Wahl und künstlichen Entschluß, sondern durch Stamm und Blut gehöre ich dem Stande an, dem die Weltherrschaft gebührt und zufallen wird: dem vierten Stande, und als diesem Stande unbestechlich angehörend empfinde ich mich mit Stolz.

In diesen Verhältnissen bin ich am 11. August 1815 geboren worden, so daß die Befreiungskriege ihre letzten Donner an meine Wiege sinken ließen; ich habe es stets, und so noch heute, mit frohem Selbstgefühl anerkannt, daß ich nicht mehr unter französischer Herrschaft, sondern gleich als freier Deutscher das Licht der Welt erblickte. Ich war ein derber, tüchtiger Junge, an dessen Wiege die Großmutter meiner Schwester prophezeite, daß ich diese, trotz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_456.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)