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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

hochlodernden Flamme recht lange zu genießen. Die leidenschaftliche Lust an der Flamme habe ich bei allen tüchtigen Knaben bemerkt, und leicht dürfte sie unser Urtheil über das gerade der Jugend so eigene Verbrechen der Brandstiftung mildern.

Unter allen diesen Natur- und Arbeitsfreuden war und blieb aber unbezweifelt die höchste die Weinlese. Oberkassel trägt in seinen besten Lagen wenigstens in guten Jahren noch einen leidlichen Rothwein, und zwei unserer Weinberge galten für die Kronen der Feldmark. Bevor der Zollverein die viel feurigeren Nassauer Weine in’s Preußische einließ, hatten von unseren einheimischen Sorten auch die geringeren immer noch Preis, und mein Vater konnte dann wohl ein Drittel seines Pfarrgehalts aus seinem Gewächs lösen; jetzt freilich wird wohl der dort erzeugte Wein zum Haustrank für den Pfarrer hinabgesunken sein, wie denn überhaupt in meiner Gegend die Weinberge keinen Ertrag mehr bringen und dem Ackerbau Platz machen. Damals also war der Herbst für den Winzer noch ein Freudenfest, dessen Genuß dadurch erhöht wurde, daß am Rheine in jeder Ortschaft sämmtliche Bürger an Einem und demselben Tage Trauben schneiden. Um nämlich Weindiebstahl zu verhüten, besteht im Herbste eine eigene, aus Einwohnern des Ortes gebildete Traubenwacht, und die Vorschriften sind in diesem Punkte so streng, daß Niemand in seinem eigenen Weinberge Trauben schneiden, ja ein Jeder denselben nur zu bestimmten Wochenstunden betreten darf. Wenn nun die Reife völlig ist, so versammelt ein Glockenziehen die Ortsbürger auf dem Gemeindehause, um zu berathen, wann die Lese gehalten werden soll. In Oberkassel diente zu dieser Besprechung ein freier Platz im Dorfe, der von einem einst dort gestandenen, nun aber längst verschwundenen Baume noch heute „an der Linde“ heißt. O, wie lauerten wir Kinder dann immer dem Vater auf, wenn er von der Linde zurückkam und uns nun meldete: „Morgen, Kinder, oder übermorgen, wenn helles Wetter ist, haben wir unseren Herbst!“ Wie paßten wir dann am erwarteten Morgen ungeduldig auf das Glockenziehen, das die Erlaubniß zum Betreten der Weinberge giebt! Und nun sank der Morgennebel, nun verzogen sich die regendrohenden Wolken, der Himmel wurde blau, und die Glocke klang. „Vater, Mutter, es stürmt!“ so riefen wir jauchzend, und fort ging’s zum Weinberge hinauf, das hölzerne Lesegefäß in der Hand, in welchem das Winzermesser lustig klapperte. Das war der einzige Tag im Jahre, an welchem das Mittagsessen nicht schmecken wollte, weil man unablässig in den saftigen schwarzen Trauben schwelgte und keine besonders schöne in’s Gefäß warf, ohne zuvor einen herzhaften Biß hineinzuthun.




Ein Besuch in Barackia.


Berliner Lebensbild.


„Hast Du schon die Berliner Republik Barackia besucht?“ fragte mich eines Tags mein humoristischer Freund.

„Welche Republik?“ erwiderte ich verwundert. „Soll das einer Deiner schlechten Witze sein?“

„Keineswegs! Es handelt sich in der That um einen neuen Freistaat im eigentlichen Sinne des Wortes, in seiner verwegensten Bedeutung, um einen Staat in freier Luft, auf freiem Felde, mit der freiesten Aussicht und den freisinnigsten Institutionen, frei von allen Chicanen der Polizei, frei von Executoren und tyrannischen Hauswirthen, ohne Miethsabgaben und Steuern, ohne verpestete Rinnsteine und anrüchige Senkgruben, frei von allen Lasten und Qualen der Weltstadt. Du kannst Dich davon mit eigenen Augen überzeugen, wenn Du mit mir einen Spaziergang nach dem Cottbuser Damm machen willst. Dort findest Du wirklich paradiesische Zustände, von denen sich die kühnste Phantasie nichts träumen läßt, die einzig wahrhaft freien Menschen, welche unsere berühmte Metropole aufzuweisen hat.“

„Du redest doch nicht von jenen unglücklichen Leuten, die wegen der herrschenden Wohnungsnoth kein Unterkommen finden konnten? Ich glaube, daß die Armen eher ein Gegenstand des Mitleids als des Spottes wären.“

„Unglücklich!“ rief mein Freund fast empört. „Sie sind so wenig unglücklich, wie der amerikanische Hinterwäldler, der gewiß sein zwar rohes, aber bequemes und gesundes Blockhaus nicht mit unseren elenden Miethscasernen vertauschen möchte. Diese Armen leben in ihren Baracken jetzt jedenfalls besser und glücklicher als früher in ihren jammervollen Dachkammern und feuchten Kellerlöchern, wo sie noch dazu befürchten mußten jeden Augenblick gesteigert oder exmittirt zu werden, wo sich ihr Kindersegen zum Fluch für sie verwandelt, wo sie unter den traurigsten Verhältnissen den Kampf um das Dasein bestehen.“

„Aber es bleibt doch immer eine Schmach für unsere Welt- und Kaiserstadt!“

„Im Gegentheil! Mich freut es, daß bei dieser Gelegenheit die Welt- und Kaiserstadt sich in ihrer ganzen Glorie zeigt. Wir haben mit Hülfe unserer deutschen Brüder einen weltgeschichtlichen Krieg siegreich geführt, Elsaß und Lothringen zurück erobert, fünf Milliarden von Frankreich gewonnen. Das Geld liegt auf der Straße, und die Börse weiß nicht, was sie damit anfangen soll. Täglich entstehen neue Bankvereine und es wimmelt von Gründern. Villen, Häuser, Paläste, ganze Straßen wachsen wie die Pilze aus der Erde. Der Bodenschwindel hat den höchsten Grad erreicht. Die Stadt besitzt ein Rathhaus, das Millionen kostet. Die Regierung schreibt Concurrenzen für Denkmäler und monumentale Bauten aus, und unterdessen irren Tausende in Berlin ohne Wohnung, ohne Obdach umher, theils weil sie die fortwährend in Folge dieser abnormen Verhältnisse steigende Miethe nicht mehr erschwingen können, theils weil die Hausbesitzer arme Leute, besonders mit zahlreicher Familie, nur ungern bei sich aufnehmen.“

„Wir haben aber doch Asyle für Obdachlose und das Arbeitshaus, welche für solche traurige Fälle eine Zuflucht bieten,“ wandte ich dagegen ein.

„Wie der Augenschein lehrt, reichen diese Anstalten nicht aus. Das Asyl für Obdachlose, welches der Privatwohlthätigkeit seine Entstehung verdankt, gewährt nur für eine, höchstens für drei Nächte ein Unterkommen. Das Arbeitshaus ist eigentlich nur eine Strafanstalt für arbeitsscheue Vagabunden und liederliche Dirnen. Man kann es daher dem ehrlichen Arbeiter und fleißigen Handwerker nicht verdenken, daß er nur im Fall der äußersten Noth sich dahin wendet, weil er die Berührung mit solchem Gesindel scheut, abgesehen von dem niederdrückenden und entsittlichenden Einfluß einer derartigen Gesellschaft.“

„Aber was soll, was kann geschehen, um dem Uebel abzuhelfen?“ fragte ich meinen Freund, der im Laufe unserer Unterhaltung immer ernster geworden war.

„Was schon hundertmal gesagt und gelehrt worden ist. Der Staat, die Stadt, die ganze Gesellschaft hat die Pflicht und das Interesse für billige Arbeiterwohnungen zu sorgen. Warum gründet man keinen Verein zu diesem humanen Zweck? – Da dies bisher noch nicht geschehen ist, so haben die armen Leute instinctmäßig das Princip der Selbsthülfe angewendet und damit den einzig richtigen Weg eingeschlagen. Vielleicht wird dieser an sich so traurige Vorfall die segensreichsten Folgen haben und den heilsamen Anstoß zu einer dauernden Abhülfe dieser Nothzustände geben.“

Unter solchen Gesprächen wanderten wir an dem „Tempelhofer Ufer“ entlang vor das Hallische Thor. Unser Ziel war der sogenannte Cottbuser Damm. Auf dem Wege dahin gingen wir durch eine Reihe erst vor Kurzem entstandener Straßen, welche von Neuem ein Zeugniß für den zunehmenden Wachsthum, für die Wohlhabenheit und den Unternehmungsgeist der Residenz ablegen. Zu beiden Seiten des von reich beladenen Schiffen und Spreekähnen belebten Canals erblickten wir die schönsten Häuser, prachtvolle Paläste, kolossale Fabrikanlagen, reizende Villen, von freundlichen Gärten umgeben, ein wirklich herzerfreuendes Schauspiel.

Zu unserer Linken erhoben sich mehrere stattliche Gebäude, die Gasanstalt bildend, zu unserer Rechten zwei mächtige Casernen, in denen bequem und gut einige hundert

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_458.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)