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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Familien wohnen können, etwas weiter imponirte uns ein wahrer Prachtbau im gothischen Styl mit Spitzbögen und durchbrochenen Thürmchen, worin verwahrloste Kinder von Verbrechern und jugendliche Sträflinge nach ihrer Entlassung gebessert werden sollen. Dahinter dehnte sich die bekannte „Hasenhaide“ mit ihren zahlreichen Brauereien und Vergnügungslocalen aus, wo das Volk beim Bockbier sitzt und die verrufenen „Louis“ freundliche Messerstiche austheilen. Allmählich verschwanden die Straßen und Häuser; es folgten mehrere große Holz- und Kohlenplätze, endlich nur noch Wiesen und Felder, die mit Korn und Kartoffeln spärlich bepflanzt waren.

Hier, wo die städtische Cultur gewissermaßen aufhörte, standen zu beiden Seiten des Weges eine Anzahl von rohen Holzhütten, meist aus ungehobelten Brettern zusammengeschlagen, ähnlich den Buden der Kaufleute auf Jahrmärkten, hier und da auch nur ein hölzernes Gerüst, zum Schutz gegen die Witterung mit grauer Leinewand überzogen, oft auch nur mit Pappbogen oder geflochtenen Strohdecken nothdürftig bekleidet.

„Wir sind in der Republik Barackia,“ sagte mein ironischer Freund auf die ärmlichen Hütten deutend.

Unter seiner Leitung betrat ich die uns zunächst liegende Colonie, die aus ungefähr zwölf solchen Baracken bestehen mochte. Am Eingange empfing uns der Präsident dieser neuen Niederlassung, der zwar nicht wie sein College Johnson von Profession ein Schneider, sondern ein Tischler war. Mit anerkennungswerther Würde und freundlicher Herablassung machte Herr Schmidt die Honneurs seines Hauses. War auch dasselbe nicht ganz so elegant wie das „Weiße Haus“ des Präsidenten der amerikanischen Union, so machte es doch einen weit bessern Eindruck, als wir erwarteten. Die einzige Stube, welche zugleich als Empfangssalon, Wohn-, Speise- und Schlafzimmer diente, war sogar mit einem gewissen Comfort ausgestattet und besaß Tische, Stühle und Betten. Die Küche, ein kleiner Feldofen, befand sich im Freien und der Keller, ein gewöhnlicher Flaschenkorb, lag dicht an der Thür und schien uns gut gefüllt.

Herr Schmidt hatte die Freundlichkeit, uns der Frau Präsidentin vorzustellen, die erst vor Kurzem die Republik mit einem neuen Sprößling beschenkt. Der junge Staatsbürger erfreute sich der besten Gesundheit, trotzdem er in einer Baracke das Licht der Welt erblickt hatte. Zur Erinnerung an diese interessante Thatsache wurde ihm in der Taufe der Name Freifeld Schmidt beigelegt, weil er auf freiem Felde geboren war. Wie wir hörten, hatte der glückliche Vater ursprünglich die Absicht, den deutschen Kaiser Wilhelm als Taufzeugen einzuladen. Obgleich aus uns unbekannten, wahrscheinlich politischen Gründen diese Courtoisie unterblieb, soll es doch bei dem Feste sehr heiter zugegangen sein, vielleicht noch heiterer als bei der jüngsten Taufe im Palais des Kronprinzen. Man trank auf das Wohl des Neugebornen und ließ es weder an den üblichen Reden noch an gereimten und ungereimten Toasten fehlen. Die Speisen und Getränke lieferte der in der Nähe wohnende Restaurateur, in dessen Schaufenster wir verschiedene Biere, selbst Selterwasser angekündigt fanden, während die ausgestellten Flaschen auch noch höhere geistige Genüsse in Aussicht stellten. Einige Gäste schienen sich beim Glase mit deutscher Tiefe und Gründlichkeit im Freien mit Lösung der socialen Frage zu beschäftigen.

Unter der Führung des Herrn Präsidenten statteten wir seinem Nachbar, einem respectabeln Lumpenhändler, einen Besuch ab. Wir traten zunächst in eine offene Halle, welche zugleich als Veranda und Waarenniederlage diente. Frauen und Kinder saßen auf weichen Säcken und sortirten fleißig den ansehnlichen Lumpenvorrath. Wie sie auf unsere Fragen erzählten, hatte die zahlreiche Familie trotz aller Mühe keine Wohnung auftreiben können, obgleich sie eine verhältnißmäßig nicht unbedeutende Miethe zahlen konnte und wollte. Zugleich zeigte man uns unaufgefordert das Quittungsbuch, woraus wir ersahen, daß die Leute bisher ganz regelmäßig und pünktlich ihren Verpflichtungen nachgekommen waren. Sowohl ihre Kleidung wie der ganze Hausstand sprach dafür, daß das Geschäft sie, wenn auch nicht glänzend, so doch hinreichend ernährte.

Als Grenzmauer zwischen ihrer und der folgenden Besitzung diente eine schwache Drahtschnur, und doch versicherte Herr Schmidt, daß dieses symbolische Grenzzeichen mit bewunderungswürdiger Gewissenhaftigkeit respectirt werde. Dicht daneben wohnte ein alter Schuhmacher, den wir ebenfalls bei der Arbeit trafen, wogegen sein Nachbar, ein junger Töpfergeselle, sich dem allgemeinen Besten widmete, indem er einen Brunnen in die Erde grub, um das nöthige Wasser für die Colonie zu schaffen. Wie wir uns überzeugten, waren seine Bemühungen bereits von dem besten Erfolge gekrönt. Nur einige Schritte weiter begegneten wir einer eben erst eingewanderten Familie, welche noch nicht dazu gekommen war, eine Hütte zu errichten. Einstweilen begnügte sie sich mit einem Schilflager, das, mit Strohmatten verhüllt und bedeckt, einem großen Waarenballen glich, in dem die Menschen gut verpackt wohnten und schliefen.

Gegen diese primitive Emballagewohnung erschien allerdings die nächste Besitzung wie ein glänzender Palast. An der Thür begrüßte uns der Eigenthümer und lud uns freundlich ein, sein „Sanssouci“ in Augenschein zu nehmen. Die Baracke mochte ungefähr vierzig bis fünfzig Schritte lang und zwanzig breit sein; sie war durch eine Scheidewand in mehrere Räume getheilt und sogar mit einer blau- und gelbgestreiften Tapete bekleidet; auch besaß sie vollständige Fenster mit Glasscheiben. Die ganze Einrichtung verrieth eine gewisse Wohlhabenheit; wir bemerkten ein Sopha von polirtem Birkenholz, mit grünem Damast überzogen, einen guten Kleiderschrank, Tische, Stühle, eine größere und eine kleinere Bettstelle, worin ein Kind mit rothen Wangen und blauen Augen lag und uns anlächelte. Der Mann selbst sah zwar bleich, aber keineswegs verkommen aus. Mit sichtlicher Freude rühmte er uns seine Wohnung und seine Augen glänzten förmlich, als er von seiner jetzigen Lage sprach und sie mit den früheren traurigen Verhältnissen verglich.

„Ich möcht’ nicht zurücktauschen,“ sagte er treuherzig. „Sehen Sie, meine Herren! Ich bin Tuchwalker und habe immer so viel verdient, wie ich brauchte. Aber jetzt geht es nicht mehr; die Miethen sind zu hoch und die Wirthe zu ausverschämt. Ich soll für ein Kellerloch und für eine kleine Küche in der Adalbertstraße neunzig Thaler geben. Das bin ich nicht im Stande, und d’runter giebt es nichts. Da hab’ ich mir lieber hier die Baracke gebaut; die Bretter kosten vierundzwanzig Thaler, für den Grund zahl’ ich bis Michaeli drei Thaler. Dafür wohn’ ich wie ein Fürst, habe zwei anständige Stuben, lebe in gesunder Luft und brauche mich nicht vom Wirthe schinden und noch obendrein chicaniren zu lassen.“

„Aber im Winter, bei schlechtem, rauhem Wetter?“ versetzte ich bedenklich.

„Davor fürchten wir uns nicht. Wir bedecken die Bretter mit Rasen und Gerberlohe; das giebt warme Stuben, und dann incommodiren uns auch nicht mehr die Fliegen,“ fügte er gutgelaunt hinzu.

Aehnliche Aeußerungen hörten wir wiederholt von den verschiedensten Bewohnern der Baracken, die uns fast ohne Ausnahme als ordentliche und verständige Leute erschienen und durchaus nicht wie Herumtreiber sich anließen. Wer daher in Barackia Mysterien à la Eugen Sue, Verbrechergestalten, Vagabunden und ähnliches romantisches Gesindel sucht, der dürfte sich getäuscht finden. Ebenso wenig entdeckten wir wirkliche Noth, noch das Elend und den Jammer eines verkommenen Proletariats, sondern eher das Gegentheil. Die Männer arbeiteten, die Frauen waren einfach, aber sauber gekleidet, die Kinder sahen gesund und reinlich aus. Fast Alle sprachen mit Befriedigung über ihre jetzige Lage, und gewöhnlich hörten wir den Wunsch äußern, daß sie es nie besser haben wollten und gern immer hier wohnen möchten.

Auf unsere Erkundigung erfuhren wir, daß der Boden, worauf die Niederlassung steht, die „Schlächterwiese“ heißt und ursprünglich der Stadt Berlin gehört. Ein Herr Bohm, welcher das Terrain vom Magistrat gepachtet, hat aus Mitleid den obdachlosen Leuten gegen einen mäßigen Zins von sieben und einem halben Silbergroschen für die Quadratruthe die Errichtung von Baracken gestattet. Nach und nach haben sich gegen siebenzig Familien angesiedelt, deren Zahl jedoch noch täglich zunimmt. Einzelne dieser Hütten verrathen allerdings noch einen höchst primitiven Zustand, dagegen ist die Mehrzahl nicht nur wohnlich, sondern selbst comfortabel eingerichtet und bietet mit den zierlichen Anpflanzungen, Gemüsebeeten und Blumenanlagen das freundliche Bild einer improvisirten Sommerwohnung in freier Natur und ländlicher Umgebung.

Im Ganzen kann man drei oder vier größere Colonieen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_460.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)