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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

mein letztes Wort, mein letzter Athemzug wirst Du sein, Regine, nur Du, trotz unserer vier geliebten Kinder, denen Du es sagen mußt, welchen Vater sie verloren haben.“ So schließt sein letzter Wille.

Friedländer war der geborene Pfleger aufkeimender Talente. Nie vielleicht hat ein Mann so endlose Geduld mit den persönlichen Schwächen, den Launen und Aufwallungen Derer bewiesen, welche er aus dem Dunkel hervorgezogen hatte. Hatte er eine bildsame journalistische Kraft gefunden, so war ihm kein Opfer zu groß, sie für immer an sein Blatt zu fesseln, kein materielles und am wenigsten ein persönliches. Wollte doch Einer von seinen Mitarbeitern sich losreißen, so wußte er ihn durch rührende Bitten zu halten. Kein edel angelegter Charakter vermochte „Nein“ zu sagen, wenn Friedländer, der sonst in seinen Ausdrücken so prägnant, fast hart war, in unbeschreiblich weichem Tone, mit herzbewegender Geberde sagte: „Bleiben Sie bei uns! Es ist Ihnen ja doch nirgends wohler als bei uns!“

Das ist das bleibende Denkmal Friedländer’s, daß er nicht blos selbst wirkte, sondern daß er einen Kreis von Männern heranzog, welche unter Etienne’s bewährter Leitung das Blatt so fortzuführen wissen werden, als ob er selbst noch unter den Lebenden weilte.




Meine Kindheit.


Von Gottfried Kinkel.


(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)


II.


War nun eingeherbstet, so folgten die Tage des Gährens, doch wurde zuvor der frische, noch ganz süße Most verkostet und nach allen seinen Zeichen kennermäßig geprüft, ob er durch Klebrigkeit, Farbe und Masse ein gutes Gewächs vorausmelde. Während der Gährung hebt sich die Masse der zerquetschten Trauben in den Bütten stark empor und muß des Tages mehrmals eingestoßen werden, weil die oberste Schicht, wenn sie nicht stets feucht bleibt, dem Weine einen brandigen Geschmack giebt. Der Winzer freut sich besonders, wenn er deshalb auch Nachts aufstehen muß, denn je stärker der Wein hebt, desto mehr Feuer bekommt er. Mein Vater stand in diesen Tagen regelmäßig um drei Uhr auf und weckte mich, dann ging’s hinunter in’s Kelterhaus, und ich mußte ihm zur Arbeit die Laterne halten, nachher legten wir uns noch ein paar Stunden auf’s Ohr. Dann kam bald die Kelterung, bei der ich mit schwachen Kindeskräften, aber stets mit gewaltigem Eifer die mächtige Kelterschraube und die großen sie beschwerenden Basaltblöcke drehen half. Es ist einer der schönsten Anblicke, die es giebt, wenn die glührothe Blume des Weines unter dem ersten, noch leisen Druck des mächtige Kelterbaums rauschend und schäumend vom Kelterbecken in die Bütte strömt. Noch herb und jugendlich scharf mit all seiner Hefe, die er später niederschlägt, bildet dieser neue Wein eine Hauptlust rheinischer Zecher und hat dann eine fabelhaft berückende und eben auch berauschende Kraft, die gar Mancher erst gewahr wird, wenn es für diesen Abend mit ihm schon zu spät ist. Auch ich that trotz meinem Kindesalter an der Kelter stets meinen herzhaften Trunk, und Niemand hinderte das. Gleichfalls habe ich, soweit meine Erinnerung zurückgeht, an den Sonntagen und wohl auch sonst, wenn ich darum bat, ein Glas von unserem Wein bekommen. Auch hier zeigte sich wieder, wie frei alles Erlaubte den Charakter macht; eben weil ich stets Wein haben konnte, bin ich vor meinem siebenzehnten Jahre, also gerade im Vollbesitz des väterlichen Kellers, auch nicht ein einziges Mal trunken oder nur bespitzt gewesen. Ich halte dafür, daß in der scharfen, zehrenden Stromluft des Rheinthals ein Glas Wein auch Kindern keinen Schade thut; man wird überhaupt finden, daß alles Genießbare, was die Natur unverkünstelt spendet, an dem Orte ohne Gefahr und sittliches Verderben genossen werden kann, wo es wächst, weil hier die allweise Mutter immer zugleich Lebensbedingungen angelegt hat, die jede verderbliche Wirkung abschwächen.

Ehe nun aber der Wein in’s Faß und somit endlich zu seiner klärenden Winterruhe kommt, müssen doch billigerweise die Winzer erst durch gegenseitiges Probiren ihres Wachsthums ihm ihren Segen und ihr Urtheil über seinen künftigen Werth mitgeben. Man nennt dieses das „Nobern“ oder Nachbarn, weil die Nachbarn sich dabei untereinander besuchen und bewirthen. Zum Nobern werden regelmäßig die nächsten Sonntage nach der Lese verwendet. Es giebt Dörfer, die durch die Großartigkeit berühmt sind, mit welcher sie diese Sitte durchführen. Der erste Bewohner einer Gasse füllt von seinem Wein ein ehrbar umfangreiches Gefäß und trägt es zum Nachbar. Nachdem sie demselben seine Ehre erwiesen, wird es aus derselben Bütte neu gefüllt, der Nachbar holt eine zweite Kanne voll von seinem Erzeugniß, und so gehen sie nun mit zwei gefüllten Gefäßen zum Dritten, der sich, nachdem er im Trinken und Spenden seine Schuldigkeit gethan, wiederum mit einer vollen Kanne anschließt. Daß am Schlusse dieses Processionsganges kein Mensch im ganzen Dorfe mehr fest auf den Beinen steht, wird Jeder glauben, der einmal eine etwas nähere Bekanntschaft mit neuem Wein geschlossen hat. Besonders im Ahrthal, wo ein prachtvoller Rothwein gezogen wird, war das Dorf Dernau durch seine festlichen Nachbarbesuche bekannt; ohne diesen Ruf verbürgen zu wollen, will ich einfach berichten, daß ich selbst einmal in dem bewundernswürdigen Weinjahr 1846 an einem Sonntagabend nach der Traubenlese von Ahrweiler nach Dernau gewandert bin und auf diesem anderthalbstündigen Wege von all den zahlreichen Menschen, die mir entgegenkamen, auch nicht ein einziger nüchtern gewesen ist. Soweit kam es nun in dem sittenstrengen Oberkassel niemals, allein einigermaßen mußte Bacchus auch hier von der Kirche respectirt werden. Am ersten Sonntage nach der Weinlese versäumte nämlich mein Vater nie, der Gemeinde anzuzeigen, daß heute kein Nachmittagsgottesdienst stattfinden werde, wobei er regelmäßig die Formel gebrauchte, daß dieses „aus bekannten Gründen“ geschehe.

Wenn nun schon diese Arbeiten unserer kleinen Landwirthschaft manche Stunde des Tages ausfüllten, so fehlte es trotzdem meiner frühesten Jugend an ausreichendem Spielraum zur Thätigkeit. Meine Eltern hatten den falschen Erziehungsgrundsatz, uns einsam aufwachsen zu lassen, weil sie befürchteten, daß Umgang mit anderen Kindern unsere guten Sitten verderben könne. Schon mit dem Dienstmädchen sollten wir nicht zu viel verkehren, und von allen Räumen des Hauses war uns deshalb einzig die Küchenstube verboten. Auf die Straße kamen wir nur an der Hand der Eltern, und fremde Kinder durften sehr selten zu uns herein. So bin ich, als der Jüngste, in meinen Kinderjahren denn niemals mit kleineren Kindern als ich selbst zusammengekommen, und dies hat meinem Wesen als Jüngling eine unleidliche Frühreife und Altklugheit gegeben, die ich nur sehr schwer mir habe aberziehen können. Gar leicht hätte noch etwas viel Giftigeres daraus werden mögen, nämlich ein aristokratischer Stolz auf den Stand und die Gelehrsamkeit meines Vaters, allein davon war kein Tropfen in meinem Blut, und so hat nach dieser Seite hin meine geistige Gesundheit keinen Bruch erlitten.

Meine Schwester hatte sechs Jahre vor mir voraus; das ist im Kindesalter eine sehr lange Zeit und begründet einen unermeßlichen Unterschied der Neigungen und Fähigkeiten. Sie spielte zwar bisweilen mit mir; da sie aber an Stärke, Schnelligkeit und vor Allem an Schlauheit mir weit überlegen war, so geschah das bei ihr mit Herablassung und bei mir, der allwege den Kürzern zog, ohne rechte Freude, denn die Lust an jedem Spiel beruht darauf, daß die Parteien sich wenigstens annäherungsweise gleich sind. Außerdem liebte meine Schwester, wie das die Art heranwachsender Mädchen gegen jüngere Kinder ist, weit mehr, mich zu commandiren als zu unterhalten, mischte sich auch da und dort wohl in meine Erziehung ein. Dies Gefühl nun, immer in ihrer Gewalt zu sein und niemals ihr obsiegen zu können, reizte mich oft zu heftigem Zorn, wie ich denn überhaupt als Kind überaus jähzornig gewesen bin. Gab es Streit zwischen uns, so erhielt ich von der Mutter gewöhnlich Recht, weil diese

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_470.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)