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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

den Sieg. Mit begreiflicher Spannung wurde in allen gebildeten Kreisen das Urtheil der Preisrichter erwartet. Am 31. Mai begannen diese ihre Berathungen. In Zeit von wenigen Tagen wurde das außerordentlich reiche Material von ihnen bewältigt. Am 7. Juni gaben sie ihr Verdict in erfreulicher Uebereinstimmung mit der schon nahezu einstimmigen öffentlichen Meinung ab. Es sprach die Palme dem Urheber jenes Entwurfs, Ludwig Bohnstedt in Gotha, zu.

Unter den Berufsgenossen hatte der Name dieses Mannes längst einen guten Klang. Wenn er außerhalb der künstlerischen Kreise gerade in Deutschland bisher nicht in gleichem Maße bekannt war, so lag dies einzig an dem Umstande, daß seine schaffende Kraft sich vorzugsweise im Auslande bethätigt hatte. Aber er

Das Portal des deutschen Parlamentsgebäudes.
Entwurf von Ludwig Bohnstedt.

gehört unserem Vaterlande, und nicht bloß der Nationalität, sondern auch dem Herzen nach an. Als Sieger in diesem Wettstreit wird er fortan zu dessen Berühmtheiten zählen, und mit Recht durften ihn die Bewohner der Stadt, die ihn gegenwärtig unter ihre Mitbürger rechnet, als sie ihm auf die Nachricht von seinem Triumphe ihre freudige Huldigung darbrachten, als „Deutschlands ersten Baumeister“ begrüßen. So glauben wir den Lesern der Gartenlaube mit einigen authentischen Mittheilungen über die Person des Künstlers, sein bisheriges Wirken und seinen gekrönten Entwurf willkommen zu sein.

Ludwig Bohnstedt ist ein geborener Petersburger und wird im October fünfzig Jahre alt. Da aber sein Vater aus Stralsund und seine Mutter aus Bamberg stammte, so ist aus dem pommerischen und fränkischen Blut ein kerndeutsches Leben entstanden, und zwar mit einem norddeutschen Verstandeskopf und einem süddeutschen warmen Herzen. Als Künstler war Bohnstedt noch Schinkel’s Schüler auf der Berliner Akademie, wo jedoch Wilhelm Stier und Strack nachhaltigeren Einfluß auf ihn ausübten. Seine Wanderschaft in die Fremde der Kunstjünger, das heißt nach Italien, trat er 1841 an, kehrte im folgenden Jahre nach Petersburg zurück, ward 1845 Mitglied und zehn Jahre später Professor der kaiserlich russischen Akademie der Künste.

Er hatte sich längst durch Privatbauten den Ruf eines ausgezeichneten Technikers erworben, ehe der Staat ihn in seine Dienste nahm und die Großen des Reichs ihn beschäftigten. Dann aber blieb, gleich nach dem ersten Winken, das Künstlerglück ihm hold bis diesen Tag. Nach vierzehnjähriger Thätigkeit in Rußland trieb ihn ebenso der Widerwille gegen gewisse allbekannte russische Landüblichkeiten, die ihm gerade bei Bauunternehmungen in häßlichster Gestalt entgegenkamen, wie der Herzensdrang nach Deutschland; seit 1863 wohnt er in Gotha.

Bohnstedt’s Werke sind außerordentlich zahlreich und zerfallen in ausgeführte Bauten und Preisentwürfe. Von ersteren nennen wir nur das Petersburger Stadthaus, das Palais der Fürstin Jusupoff, das Stadttheater in Riga, viele Privathäuser in und um Gotha, die Villa Fritz Reuter’s bei Eisenach; von seinen mit ersten und zweiten Preisen gekrönten Entwürfen sind die vorzüglichsten: die Mineralwasseranstalt in Riga, ein Gesellschaftshaus in Reval, ein Kunst- und Industrieausstellungspalast in Madrid, eine protestantische Kirche in Portugal, das Rathhaus in Hamburg, ein Cantonschulgebäude in Bern und ein monumentaler

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_474.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)