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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 30.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Eine Leidenschaft.


Von E. Werber.[WS 1]


Auf einer Fußreise in den Karpathen hatte ich mich eines Tages, von einem sehnsüchtigen Verlangen nach großer Wildniß und gänzlicher Einsamkeit geleitet, an einen sehr entfernten Punkt und ohne Führer gewagt und, von der Großartigkeit der Natur hingerissen, ganz und gar den Rückweg zu meiner Herberge vergessen. Die Dämmerung sank herab und ich stand noch vor einem tosenden Wasserfalle, der seine chaotischen Träume in die Wildniß sang; erst als die Bäume im Dunkel zu verschwimmen anfingen, brach ich auf. Da ich mich auf meinem Wege zu wiederholten Malen aufgehalten hatte und keiner bestimmten Richtung gefolgt war, so wußte ich nicht, wie weit ich von der Dorfherberge entfernt und welche Richtung ich einschlagen solle, um sie zu finden. Ich ging, nach einem Blicke auf die verschiedenen Lichtungen des Waldes, links über den sanften Rücken einer Wiese, welche mich aber bald wieder vor einen dichten Wald brachte. Unschlüssig, ob ich weitergehen oder umkehren solle, blieb ich stehen und es fing an mir unbehaglich zu werden, als plötzlich ich die Klänge eines Claviers zu vernehmen glaubte. Ein Clavier? Nicht möglich! Ein Clavier hier oben in der Wildniß, wo nicht einmal das Brüllen der Kuh oder das Meckern der Ziege zu hören ist, hier oben das modernste Instrument der Musik? Ich lachte über die Täuschung meines Ohrs und wollte die Wiese wieder zurückgehen, als ich von Neuem jene Klänge hörte, und diesmal stärker. Ich lauschte und vernahm deutlich einen wilden Octavenlauf. Ich wußte jetzt, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Es war ein Clavier hier oben in der wildesten Wildniß der Karpathen! Ein Clavier und ein Mensch, der Clavier spielte! Wo aber war das Haus, in welchem dieser Mensch lebte? Es war schwer, die Richtung auszufinden, von welcher die Klänge kamen.

Ich schritt auf gut Glück in den Wald und fand nun, daß er nicht dicht war. Bald klangen zu meiner Freude die Töne deutlicher zu mir herüber und nach etwa dreihundert Schritten sah ich Licht durch die Bäume schimmern. Es kam von einem Abhange außerhalb des Waldes. Rüstig schritt ich weiter, dem Lichte zu, und sah, als ich aus dem Walde trat, daß dieses Licht nicht aus einem Hause, sondern aus einer Lehmhütte, eigentlich einem Lehmstalle, kam, welcher dicht an den Felsen angebaut war. Hier konnte das Clavier nicht sein; solche Hütten sind nur von Hirten und dem Vieh für ein paar Nächte bewohnt, wenn sie sich auf die höchsten Weiden wagen. Und doch – die Töne kamen, jetzt anmuthig sich verschlingend, voll und harmonisch aus dem Lehmstalle. Meine Neugier war auf’s Höchste gespannt, und ich vergaß beinahe darüber, wie erfreulich mir Verirrten ein Obdach war. Die Hütte war lang und tief; aber sie hatte keine Fenster, sondern nur zwei breite Ritzen und in der Mitte eine große Oeffnung, welche als Eingang diente. Als ich mich diesem Eingange näherte, sprang mir ein großer Hund mit wüthendem Gebell entgegen. Das Clavierspiel hörte auf, und nun sah ich etwas Seltsames, Unerwartetes, Unglaubliches. Unter den Eingang trat aus der Hütte eine Frau in elegantem Seidenkleide, in der einen Hand eine hohe Alabasterlampe und in der andern ein Pistol haltend.

„Wer ist hier?“ frug sie rasch und entschlossen auf Polnisch. Ich antwortete, so gut es mit meinem schlechten Polnisch ging, ich sei ein Fremder, habe mich im Gebirge verirrt und sei den Tönen und dem Lichte nachgegangen, hoffend, hier eine Herberge für die Nacht zu finden.

„Sind Sie ein Deutscher?“ frug sie. Als ich diese Frage bejahte, sagte sie in geläufigem Deutsch und mit einem reizenden polnischen Accent: „Ich spreche Deutsch, kommen Sie herein.“

Ich folgte ihr in die Hütte. Es saß eine andere Frau an einem Lehmherde und sah mich mit großen Augen an. Sie war eine Dienerin der Frau, und schien den Abendthee zu bereiten.

„Sie finden keinen Comfort bei mir,“ sagte die Dame, „nicht einmal ein Bett. Ich schlafe auf einem Strohsack, meine Dienerin auch; mein Diener und der Hund schlafen vor der Hütte draußen. Ich werde Ihnen meinen Strohsack geben und eine wollene Decke, und Sie werden die Güte haben, sich vor der Hütte niederzulassen.“ Dann wandte sie sich an ihre Dienerin und hieß sie Thee, Rum, schwarzes Brod und Wildpret aufstellen. Sie hatte eine weiche Stimme, sprach aber schnell und in gebietender Weise, wie eine polnische Aristokratin, die gewohnt ist, mit Leibeigenen umzugehen.

„Setzen Sie sich,“ sprach sie, auf einen Stuhl oder vielmehr auf einen Klotz zeigend, der nahe beim Herde stand. Dann ging sie zum Clavier, blätterte in den Noten und schien sich weiter nicht um ihren Gast kümmern zu wollen. Sie war jung, klein und schmächtig gebaut und hatte die Biegsamkeit einer Schlange und die Raschheit eines Salamanders. Ihr Gesicht war ganz slavisch, breit an den Wangen und der Stirn. Ihr Haar war dunkel, kurz geschnitten und am ganzen Kopfe in vollen dichten Ringeln hoch aufgebäumt. Das grau-braune Auge, ungewöhnlich groß, hatte einen geistvollen, durchdringenden Blick;

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Auf S. 479 steht in der Vorlage C. Werber, auf S. 508 (Beginn des Schlussteils) heißt es aber E. Werber und auch die Erzählung Ein Meteor mit der Fußnote Verfasser von „Eine Leidenschaft“ im Jahrgang 1874 ist wieder mit E. Werber gezeichnet.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_479.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2020)