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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Ich wünschte, der Gräfin ein Zeichen meiner Dankbarkeit zurücklassen zu können. Aber was? Ich wünschte ein Maler zu sein, um ihr eine Skizze zeichnen zu können. Das Einfachste schienen mir einige Worte auf einem Streifen Papier. Ich öffnete meine Brieftasche und fand zu meiner größten Freude ein Briefchen Remeny’s, welches mir derselbe am Tage meiner Abreise von Pest geschickt hatte. Es lautete:

„Mein lieber M. Ich hoffe, Sie haben gestern mit dem Souper nicht lange auf mich gewartet. Es war mir nicht möglich zu kommen, denn ich hatte ganz abscheuliche Magenkrämpfe. Ach, man wird alt und kann nichts mehr vertragen! Finden Sie in den Karpathen ein Mittel, mich zu verjüngen, so bringen Sie es mir. Ihr Remeny.“

Diese Zeilen schloß ich in ein Couvert, deren ich auf dem Schreibtisch sah, und schrieb darauf: „Meiner gütigen Wirthin in den Karpathen.“ Dieses Briefchen Remeny’s mußte sie unendlich freuen; und zugleich stimmten die „abscheulichen Magenkrämpfe“ und Remeny’s Bekenntniß, daß er sich alt werden fühle, ihre Begeisterung ein wenig herab. Ich verließ mit Bedauern die Lehmhütte und erreichte gegen zwei Uhr Nachmittags die Dorfherberge, wo mein Führer aus der Hütte mich verließ. Ich frug in der Herberge nach der Gräfin Namen und Verhältnissen und erfuhr, daß sie eine Tochter des hoch angesehenen und reich begüterten Grafen Z. und seit fünf Jahren mit dem Grafen Br. verheirathet sei, aber schon lange nicht mehr mit ihm lebe. Sie habe sich ihrer Excentricitäten wegen mit ihrer Familie entzweit. Ihr Mann lebe in Italien und habe ihr einziges Kind, einen Knaben von vier Jahren, der Mutter der jungen Gräfin übergeben. Diese besuche zuweilen mit dem Knaben auf ein paar Tage die Gräfin Br., wenn sie auf ihrem Gute, eine Tagereise hinter Lemberg, sei. Sie reise aber viel und im Sommer gehe sie immer auf ein paar Wochen in die Karpathen. So hoch, wie dieses Jahr, sei sie noch nie gegangen und Niemand könne begreifen, was sie da oben mache.

Auf meiner Rückreise nach Pest über Lemberg kam ich am Gute der Gräfin Br. vorüber. Es war ein altes trauriges Gebäude; sehr umfangreich, doch nur ein Stock hoch. Ein paar verwitterte Thürmchen gaben ihm das Aussehen eines Herrschaftshauses; im Uebrigen war es einfach, ja kahl. Ich begriff, wie die Seele dieser Frau in diesem reizlosen Gebäude und dieser reizlosen, morastigen Gegend verdursten müsse.

Als ich in Pest ankam, war Remeny verreist. Wenige Wochen darauf wurde ich von meinem Posten in Wien abgerufen und lebte zwei Jahre in Stockholm. Nach dieser Zeit kam ich nach Wien zurück und machte kurze Zeit darauf einen Ausflug nach Pest. Einer meiner ersten Besuche galt Remeny. Ich fand ihn nicht gealtert, im Gegentheil, er sah jünger als vor zwei Jahren aus. Ich sagte es ihm und er schien sich darüber zu freuen. Er fragte mich, ob ich schon eine Einladung für den Abend habe. Als ich es verneinte, lud er mich zu Tische ein und versprach mir, mich nach dem Diner in ein höchst interessantes Concert zu führen, welches zu einem wohlthätigen Zwecke gegeben werde und woran sich auch einige Dilettanten aus der hohen Gesellschaft betheiligen würden. Ich versprach pünktlich zu sein und ging in den Gasthof zurück, um mich für’s Concert umzukleiden. Man hatte mir ein kleines Zimmer gegeben und mich gebeten, bis zum Abend damit fürlieb zu nehmen, wo zwei Zimmer, wie ich sie wünschte, im ersten Stock hergerichtet sein würden. Als ich zu Remeny kam, fand ich einige meiner Bekannten bei ihm, welche auch zu Tische geladen waren. Man war ungeheuer heiter und lebhaft. Remeny trank viel, ich fürchtete, zu viel; allein er ging nicht über die Grenzen einer warmen Lebhaftigkeit hinaus. Gegen Ende des Diners sah er oftmals auf die Uhr. Ich sagte scherzhaft zu ihm, er scheine das Concert kaum erwarten zu können.

„Komm!“ erwiderte er mit einem seltsamen Blick.

Endlich brachen wir auf. Im Concertsaale trennten sich die Uebrigen von Remeny und mir. Wir Beide blieben beisammen. Der Saal war schon ziemlich angefüllt, namentlich waren alle vorderen Sitze eingenommen. Dennoch ging Remeny kühn bis zur ersten Reihe vor. Es war kein einziger Stuhl mehr frei; allein kaum waren wir zwei jungen Leuten sichtbar geworden, als sie von ihren Stühlen aufstanden und sich in den Hintergrund des Saales zurückzogen. Remeny hatte die Sitze für uns durch zwei seiner Scribenten besetzen lassen. Die Plätze waren ausgezeichnet; nicht in der Mitte, aber so gelegen, daß man die Künstler bei ihrem Erscheinen auf dem Podium frei im Auge hatte.

Remeny, der viel Gefeierte, der viel Getadelte, der viel Beneidete, kannte alle Welt und sprach mit allen Zunächstsitzenden. Auch hier blickte er oft auf seine Uhr und schien außerordentlich ungeduldig auf den Anfang des Concerts zu sein. Das Programm war interessant. Es enthielt Männerchöre, Gesangs-, Violin- und Clavier-Soli. Die Künstler waren genannt, die Dilettanten nicht. Die von denselben auszuführende Piècen waren die Chöre, zwei Gesänge für Sopran und die G-moll-Ballade für Clavier von Chopin.

Endlich begann das Concert; die Nummern folgten sich rasch. Ein Chor, dann die Violine, dann ein Gesang. Die Sängerin war eine große, dicke Frau, mit einer mächtigen Stimme und vieler Kunst des Vortrags. Sie war in blaßrothen Atlas gekleidet und mit Diamanten und Blumenketten übersäet. Sie wurde unter starkem Applaus warm empfangen; übrigens war sie die Frau eines Barons G., welcher eine der höchsten Staatswürden bekleidete. Remeny applaudirte wie wahnsinnig. „Applaudiren Sie doch,“ sagte er zu mir, „hinter uns sitzt die ganze Aristokratie und wir werden nirgends mehr eingeladen, wenn wir nicht wenigstens Ein Paar Handschuhe für die Baronin zerreißen.“ Und er lächelte mit dem sarkastischsten Lächeln.

Als die Baronin gerufen wurde, sang sie gütigst noch ein ungarisches Volkslied und der Jubel wollte kein Ende nehmen. Endlich verschwand sie. Ich frug Remeny, wer die Dame sei, die Clavier spielen werde; er antwortete mir nicht, sondern sah gespannt auf die Thür, aus welcher sie gleich kommen mußte. Ich bemerkte, daß die hinter mir sitzenden Damen die Köpfe zusammen steckten und zischelten. Jetzt öffnete sich die Thür und es erschien eine kleine zarte Gestalt, von den Fußspitzen bis zum Kinn und den Händen keusch und ernst in schwarzen Sammt gehüllt. Wie sie zum Clavier herantrat und lebhaft begrüßt wurde, sah sie mit großen Augen und todtenbleich in die Menge, verbeugte sich stolz ein wenig nur und setzte sich dann an den Flügel. Wo hatte ich diese Frau schon gesehen? – Wie ein Blitz durchzuckte es mich: in der Lehmhütte auf den Karpathen hatte ich sie gesehen. Ja, es war ihre Gestalt, ihr Gesicht, ihr unvergeßliches Auge, ihr Haar, das sie so wie damals trug, nur daß es noch höher aufgebäumt war und noch ein wenig tiefer auf der Stirn lag.

„Wie heißt die Dame?“ wollte ich Remeny fragen. Aber die Worte starben auf meiner Lippe, so war ich von Remeny’s Gesichtsausdruck betroffen. Seine Züge waren todtenbleich und wie vergeistigt. Seine Nasenflügel zuckten leise und seine Augen brannten mit glühender Leidenschaft auf der Gräfin Gestalt. Er war in diesem Augenblicke schön wie ein Gott. – Er kennt sie – rief es in mir, und ich lehnte mich tief in meinen Stuhl zurück, um sein Gesicht während ihres Spiels beobachten zu können. Sie begann. Sie spielte wie früher, wild, eigenthümlich, abgerissen, excentrisch, aber elektrisirend; ihr Spiel packte den Zuhörer. Remeny bohrte seine dunkeln Augen in sie und schien kaum zu athmen. Es war eine athemlose Stille im Saal; wen das Spiel nicht fesselte, den fesselte die unbeschreiblich interessante Erscheinung der Frau.

Gegen die Mitte der Ballade hob sie das Auge von den Tasten, und ich sah, daß ihr Blick auf Remeny fiel. In diesem Augenblicke stockte ihr Spiel; sie schien sich der nächsten Tacte nicht zu erinnern. Sie ging einige Tacte zurück und fing die Phrase wieder an. Remeny drückte seine Augen gewaltsam an sich; ich sah, daß er kämpfte. Als sie an der fatalen Stelle ankam, stockte sie wieder. Es entstand eine leise Bewegung im Saale. Remeny knirschte vor Wuth und sagte für sich hin: „wie kann man so dumm, so närrisch, so kopflos sein!“ Sie hielt eine Secunde beide Hände vor die Augen, und spielte dann, einige Tacte, die ihr offenbar nicht in’s Gedächtniß zurückkamen, überspringend, mit einer so hinreißenden Leidenschaft die Ballade zu Ende, daß der ganze Saal in einen Beifallssturm ausbrach. Remeny applaudirte nicht; er sah ihr düster nach, als sie das Podium verließ. Sie wurde stürmisch gerufen. Blaß und mit verstörtem Blicke erschien sie. Man bat um noch eine Pièce; sie zog sich zurück und kam trotz wiederholtem Rufen nicht mehr.


(Schluß folgt.)




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