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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Frau zu suchen, die ebenso gebildet und klar, als einfach war in Erscheinung und Wort.[1]

Indessen kam Fritz v. Stein und erlöste seinen Bruder und besonders mich von unserer Wachtparade in der großen Gesellschaft. Wir eilten auf eine Brücke, welche westlich über den Wallgraben führte, auf einen großen abgerundeten Kiesplatz, an den sich nach Süden der große Pavillon schloß, zu dessen Säulenhalle eine breite Treppe führte. Hier waren wir mitten im fröhlichen Spiele, indem wir mit großen, schweren Kegelkugeln nach einem ziemlich entfernten Pfahle warfen, als Goethe kam und uns zurief: „Was treibt Ihr da?“ – Und wie anders war jetzt dieser so gefeierte Mann! Leicht kam er einher, freundlich schaute er uns an, nahm Fritz v. Stein an der Hand und forderte uns auf: „Jetzt, Burschen, kommt mit mir!“ Er schlug den nächsten Weg in den Park ein, und ich folgte schüchtern; ich gestehe, nicht ohne Neid auf den Spielcameraden, den Goethe an der Hand führte. Goethe wußte herrlich mit uns zu plaudern, er gab uns Räthsel auf und setzte sich in eine Laube, welche neben einem Quell sich erhob. Vor uns lag der blaue Spiegel eines ovalen Teiches, dessen klares Wasser ein grüner Grasrand einfaßte.

Nachdem wir einige Räthsel gelöst hatten, während ich in respectvoller Ferne stehen blieb und nur schüchtern antwortete, fragte mich Goethe, warum ich so scheu und fern bliebe? Auf meine langsame Antwort: „ich weiß, vor wem ich stehe,“ rief Fritz v. Stein:

„Stille Wasser sind tief; der ist ein ebenso wilder Bursch, wie ich.“

Goethe lächelte und fragte mich, ob ich schon einen Beruf gewählt hätte? Ich antwortete, daß ich eigentlich Soldat hätte werden wollen; da meine Eltern aber das nicht wünschten, möchte ich Theologie studiren.

„Hm, hm!“ entgegnete Goethe, „ein leidlicher Sprung! – Theologie? – Aber da hüte Dich vor den theologischen Quacksalbern und vor den Todtengräbern, die das alte Gebein ausgraben, und gelehrt darüber spintisiren und es sortiren und wunderbarlich combiniren. – Ein Theologe? – Hm, ja! – nur aber ein rechter. Und das ist nicht leicht. Hüte Dich vor der gelehrten Species, die mit dunklen Worten andächtig kramt. Meine nicht, was Rechtes zu erhaschen, wenn man schwache Weiblein gefangen nimmt, und verkommene Taugenichtse mit Gnadenworten streichelt. – Ein rechter Dorfpastor, der mitten im Leben steht, der es frisch faßt und warm beleuchtet, ist besser als ein aufgeblasenes Kirchenlicht, das weiß, was Niemand weiß, und beweist, was Keiner versteht. Halte am Leben und seiner frischen Quelle, nicht an flimmerndem Scheine, – an der Natur, nicht an wunderlichem Gelehrtenkrame.“

Während Goethe dies sprach, und nach und nach lebhaft wurde, kam ein Theil der Kirmeßgäste mit dem Hausherrn. Da sich nun Goethe an diese anschloß, wendeten wir drei jungen Bursche uns auf dem nächsten Seitenwege nach einem anderen Theile des Parkes, und während die Brüder Stein in ein lebhaftes Gespräch mit einander geriethen, flüchtete ich mich zu einem einsamen Plätzchen, und suchte mir Goethes Worte über die Theologie treu in meine Brieftafel niederzulegen.

Bald rief uns die Tischglocke zusammen, und nach einem sehr belebten Mittagsmahle in dem schon oben erwähnten offenen Pavillon, welcher einen freien Blick in den Park hinein gewährte, begab sich die ganze Gesellschaft nach dem Dorfplane, wo die Ortsgemeinde ihren Kirmeßtag hielt, ziemlich in der Mitte des Dorfes. Um eine majestätische Linde, welche ihre riesigen Aeste weit um sich breitete, zog sich ein erhöhter, runder Plan. An der einen etwas hoch gelegenen Seite war von Balken, Birken und Tannen eine Laube errichtet.

Schon ging es unter dem alten Baume gar lebhaft her. Zu der Fiedel scharfem Striche, von drei Baßtönen, einer schneidenden Clarinette und zwischendurch von der Trompete und großen Trommel begleitet, drehte sich schleifend das fröhliche Völkchen, jauchzend und tratschend, während ringsum der frische Dorftrunk, das selbsterbraute Bier, in großen Gläsern und Krügen fleißig von Hand zu Hand, von Mund zu Munde ging. Sobald man aber den Dorfherrn, denn das war Herr v. Stein im humansten Sinne des Wortes, mit seinen Gästen kommen sah, schwieg die Musik und löste sich der Tanz. Zwei Männer, die Senatoren der Gemeinde, und zwei frische, junge Burschen, die gewählten Vortänzer der Kirmeß, kamen mit großen Gläsern voll Bier ehrbar dem Herrn und der Frau v. Stein entgegen, hießen sie willkommen und kredenzten ihnen und ihren nächsten Gästen den „frischen Trunk“. Herr v. Stein trank auf das Wohl seiner Großkochberger, und die Abgeordneten geleiteten die Angekommenen zu der Laube, welche man für den Gerichtsherrn und seine Gäste erbaut hatte. Während die erwähnten beiden jungen Burschen ein Paar verschämter junger Tänzerinnen den beiden Söhnen des Herrn v. Stein zuführten und der eine sich bei Fräulein v. Stein die Ehre des Tanzes ausbat, bot die Musik alle Kräfte auf, einen besonders schönen Walzer zu spielen, und die drei Paare tanzten jetzt den sogenannten „Ehrentanz“. Anfangs hatte sich Goethe unter die Leute begeben und mit ihnen gesprochen, dann aber setzte er sich in die Laube. Schweigend saß er da, und das große Auge beobachtete das bewegte, jubelnde Volk in seinem fröhlichen, derben Gebahren. Hier die gemächlichen Alten mit Pfeife und Bierkrug, da die gemessenen, neugierig umschauenden und dabei gar ausdrucksvoll richtenden und schlichtenden Frauen, in der Mitte das sich schwenkende, drehende, trappelnde junge Volk.

Als nach ein paar Stunden die Stein’sche Gesellschaft heimging, engagirte Goethe den lebhaften Methfessel und ging mit ihm in den Schloßpark. – Nach einiger Zeit wurden Beide vermißt, geheimnißvolles Flüstern folgte hier und da, nachdem Diener eingetreten waren und Meldungen an den Hausherrn gemacht hatten. Man rief Fräulein v. Stein ab. Auch ich wurde bald abgerufen und in einen Salon geführt. Hier fand ich Methfessel am Flügel, neben ihm den Sohn des Cantors vom Orte, welcher einen vollen, sonoren Baß sang, und Fräulein v. Stein, welche eine herrliche Discantstimme besaß. Letztere kam mir fröhlich entgegen: „Sie müssen mitsingen, wir führen die Kirmeß auf.“ Goethe stand mit einem Papier im Hintergrunde. Er hatte einen Text niedergeschrieben, den Methfessel in flüchtigen Zügen componirt; Alles war in vielleicht zwei Stunden geschehen. Goethe las uns nun seinen kurzen Text mit dem vollen Ausdrucke des Lebens – Wenige können lesen, wie es Goethe konnte – zweimal vor, machte die nöthigen Bemerkungen und übergab dann Methfessel das Weitere, indem er uns verließ. Nun wurde der Gesang eingeübt, während Methfessel nach einzelnen hingeworfenen Noten und musikalischen Zeichen accompagnirte. Wir waren mitten im Singen – da trat ein Diener ein und bat, wir möchten zum Thee kommen. Er wurde an die vertraute Adresse gewiesen; bald kam ein zweiter, ein dritter, endlich Goethe und rief: „Kinder, ich bewältige den Sturm nicht mehr. Eilt und kommt! Eure Musik ist ja Dorfkirmse; da geht viel in den Kauf. Lieber Methfessel, jetzt gilt’s Selbstverleugnung. Kommt!“

Mit den Worten: „Menschen, ihr mordet mein ungebornes Kind!“ stand Methfessel auf und rief Goethe nach: „Ja, kommt! – Der hat gut reden, sein Ding ist fertig; – aber wir, wir führen eine richtige Dorfkirmse auf, daß die armen Zuhöhrer sich entsetzen werden.“

Er nahm mit Todesverachtung seine Papiere. Wir folgten ihm. Wir glichen einem Trauerzuge. So traten wir in den Salon der Frau des Hauses, wo sich die übrige Gesellschaft, längst auf uns harrend, gesetzt hatte. Vor Frau v. Stein rauschte und rauchte die Theemaschine, und die sorgliche Herrin rief: „Mein Thee, mein armer Thee!“

Methfessel aber antwortete: „Meine Kirmse, meine arme Kirmse!“

„Was will er mit der Kirmse?“ hieß es, und die nicht verstandene Klage des armen Componisten machte der in unser Geheimniß uneingeweihten Gesellschaft gar mancherlei Bedenken.

Indessen hatten die Diener den Flügel hereingebracht. Der unruhige Methfessel trank mit Hast eine Tasse Thee mit Rum und flüsterte Goethe zu, der neben ihm saß: „Ihr tragt die Schuld, wenn wir elendiglich zu Schanden kommen. O ich Esel, daß ich mich durch Euch berücken ließ!“

Obgleich auch Goethe jetzt die Sache bedenklich zu finden schien, stand er doch auf, rief Methfessel leise zu: „Besser frisch

  1. Man hat das Verhältniß zwischen Goethe und der Frau Stallmeister v. Stein bisweilen gewiß falsch aufgefaßt. Ich war öfter bei Frau v. Stein in Weimar, und sie selbst führte mich später bei Goethe ein. Wer die geistig bewegte Frau und ihr Leben näher kennen lernte, wer sie mit Goethe zusammen sah, mußte zu obigem Urtheile kommen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_493.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)