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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War Alles leer –

Ich glaubte es zu verstehen, – ich hatte es doch nur mit den Augen gelesen, nicht mit dem Herzen, mit dem Herzen des einsamen Mannes, der nach zehn Jahren zurückkehrt zu dem heiligen Raum seiner Jugendzeit, um zu finden, was ich hier gefunden: die schmerzlichste Erinnerung an das, ‚was mein einst war.‘“

Hinauf und hinab zogen die Schwalben dicht an der Erde hier, in hohen Bogen dort über einen beladenen Erntewagen, der aus einem Nebengäßchen auf die Hauptgasse lenkte, und in der Thür einer Scheune verschwand.

„Wie heißt es doch,“ sagte Gotthold:

„Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten schwoll,
Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird’s nie mehr voll.“

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, die Thränen abzutrocknen, die ihm unaufhaltsam aus den Wimpern drangen, während ein wehmüthiges Lächeln um seine Lippen zuckte.

„Das wäre ein Schauspiel für meine römischen Freunde, mich hier stehen und weinen zu sehen wie einen Schulknaben; und was würdest Du sagen, Julia? Dasselbe, was Du sagtest, als ich Dir das Lied übersetzte: ‚das ist ja Unsinn, lieber Freund! Wie kann ein Herz leer sein? mein Herz ist niemals leer gewesen, seitdem ich weiß, daß ich eines habe; und jetzt ist es voll von Liebe zu Dir, wie Deines von Liebe zu mir, Du deutscher Träumer!‘ – Und Du strichest mir das Haar aus der Stirn und küßtest mich, wie nur Du küssen kannst. Und doch, und doch! Wenn ich Dich liebte, Julia, so war es nur ein schwacher Abglanz der Liebe, die ich einst gefühlt, wie vorhin der bleiche Ost noch einmal in rosigen Lichtern aufflackerte von dem Wiederschein des Abendroths, das im Westen verglühte. Ich habe mich von Dir trennen können, und mein Herz hat nicht gezuckt, wie vorhin, als ich auf dem Grabsteine des Kindes ihren Namen las, die selbst für mich todt ist.“

Er streckte segnend die Hand aus.

„So singt denn weiter, holde Schwalben, den süßen traurigen Gesang! Und ziehet fort und kehret wieder, und bringt den Frühling in die leeren Felder und die vollen Menschenherzen! Und schütze euch der Himmel, traute Heimathflur und liebes Heimathdorf! Ihr sollt mir heilig sein, wie die Erinnerungen meiner Jugendzeit trotzalledem!“

An der Dorfschenke hielt der Wagen angespannt. Der Kutscher hatte den Pferden nur die Zäume über die Köpfe gestreift, damit sie bequemer das in Würfel geschnittene Brod fressen konnten. Jetzt rückte er die fliegende Krippe weg, ließ sie noch schnell einen Zug aus dem halbgeleerten Eimer thun, und stand, als Gotthold herankam, bereits die Zügel in der Hand, am Schlage, den er mit einem freundlichen Grinsen öffnete.

Es war das erste Mal, daß er seinem Fahrgast eine solche Aufmerksamkeit erwiesen. Sie hatten den langen Weg quer über die Insel weg zurückgelegt – Gotthold, in trübe Gedanken versunken, gegen seine Gewohnheit schweigsam und keineswegs unzufrieden mit der Schweigsamkeit des Mannes, der stunden- und stundenlang regungslos da vor ihm saß, die breiten, in einen blau linnenen, an den Nähten weißen Rock gehüllten Schultern lässig vornübergebeugt und aus seiner kurzen Pfeife dampfend, die Gotthold ihm nicht verwehren mochte, so unbequem ihm auch manchmal der süßliche Duft des heimischen Krautes war.

Er durfte deshalb einigermaßen verwundert sein, als der Breitschultrige, nachdem sie eben aus dem Dorfe waren und langsam zwischen den Kornfeldern auf dem schmaleren Vicinalweg nach der Landstraße fuhren, sich plötzlich umwandte und, abermals seine großen weißen Zähne zeigend, in seinem breiten Platt sagte:

„Kennen Sie mich wirklich nicht mehr, Herr Gotthold?“

„Nein,“ sagte Gotthold, lächelnd in das lächelnde Gesicht des Kutschers schauend, „aber Sie scheinen mich desto besser zu kennen.“

„Ich habe mich schon den ganzen Weg darauf besonnen, ob Sie es wären oder nicht,“ sagte der Mann, „manchmal glaubte ich’s, und manchmal wieder nicht.“

„Da konnten Sie doch fragen.“

„Ja, das sagen Sie wohl, da bin ich gar nicht darauf verfallen; das wäre freilich das Einfachste gewesen. Na, nun ist es ja nicht mehr nöthig; nun kenn’ ich Sie ja – daran!“ sagte der Mann, indem er mit dem Peitschenstiel auf seinem Gesicht die Linie von Gotthold’s Narbe zog. „Und hätte Sie wohl schon heute Morgen daran kennen müssen, denn so was sieht man nicht alle Tage; aber es ist doch schon ein bischen lange her, und im Krieg kommt ja so was wohl oft vor, und Sie sehen mit Ihrem langen Bart und dem braunen Gesicht g’rad’ aus, als ob Sie aus Spanien kämen, wo es ja wohl wieder Krieg geben soll, aber als Sie vorhin in Rammin halten ließen, und auf das Pastorhaus zugingen, ohne mal zu fragen, da sagte ich gleich: ‚sieh, er ist es doch.‘“

„Und Sie sind – Du bist Jochen – Jochen Prebrow!“ rief Gotthold, mit Herzlichkeit seine Hand ausstreckend, in die Jochen, der sich halb auf seinem Sitze umgewandt hatte, mit seiner breiten Hand nicht minder herzlich einschlug.

„Na, freilich!“ sagte Jochen, „und Sie haben mich wirklich nicht gekannt?“

„Wie kannst Du das nur glauben?“ sagte Gotthold, „Du bist so groß und stark geworden, trotzdem Du allerdings in dieser Beziehung nur gehalten hast, was Du als Knabe versprachst.“

„Ja, das liegt so im Menschen,“ erwiderte Jochen, „aber mein Feldwebel in Berlin sagte immer, das wäre kein Naturfehler.“

Jochen Prebrow wandte sich wieder zu den Pferden. Er hatte die Identität seines stattlichen Passagiers mit dem schlanken Gespielen seiner Jugendjahre, über die er den ganzen Weg gegrübelt, festgestellt, und war mit dem gewonnenen Resultat vorläufig vollkommen zufrieden. Auch Gotthold schwieg; es hatte ihn eigen berührt, daß er mit dem guten Jochen beinahe einen Tag lang hatte reisen können, wie mit einem fremden Menschen.

Jochen Prebrow, der Schmiedsjunge von Dollan! Da waren sie wieder, die schönen Tage, wenn er von P. aus mit Curt Wenhof in die Ferien ging, die selbstverständlich in Dollan verlebt werden mußten, und oben auf der Haide, wo der Weg nach Dollan sich von der Landstraße abzweigte, Jochen Prebrow, ihrer harrend, stand und die Mütze schwenkte; Jochen, der wohl wußte, daß mit den Beiden auch seine gute Zeit kam, die Zeit des Fischefangens und Vogelstellens, unter Aufsicht des alten Vetter Boslaf, und tausend toller unbeaufsichtigter Streiche zu Wasser und zu Lande, für die Curt dem gutmüthigen Vater gegenüber allezeit die nicht schwere Verantwortung übernahm.

„Und der junge Herr ist nun auch todt,“ sagte Jochen Prebrow, sich auf seinem Sitz wieder halb umwendend, zum Zeichen, daß er seinerseits mit der Hauptsache fertig und bereit sei, nun zu den Einzelheiten überzugehen.

Gotthold nickte.

„Umgesegelt auf der Spree!“ fuhr Jochen fort, „und ertrunken, und konnte segeln wie ein Vollmatrose, und schwimmen wie ein Hecht, das ist zu curios; aber er hat mir’s wohl gesagt, daß es mit ihm mal so ein Ende nehmen würde.“ Und Jochen stopfte sich eine frische Pfeife.

„Wann hat er Dir das gesagt?“

„Er war ja zu seiner Schwester ihrer Hochzeit hier von Gr., und hernach sollte er ja wohl nach Berlin und sich ausweisen, ob er seinen Lex gelernt hätte, und das wird ja denn wohl man schwach damit bestellt gewesen sein, denn für das Lernen ist unser Herr sein Tage nicht gewesen. Und so sagte er auch zu mir, als wir von P., wo die Trauung gewesen war, zurückkamen, und ich hatte die Hochzeitskutsche gefahren, denn ich mußte fahren, weil der alte Christian krank war; und dann ging’s wieder pleine-chasse nach Dollan, und es war ein großes Frühstück, und unser junger Herr hatte wohl ein bischen reichlich getrunken, als er zu mir in den Stall kam und sich auf das Stroh warf und anfing zu weinen, daß es ein Jammer und Elend war.

‚Was haben Sie denn, jung’ Herr?‘ sagte ich.

‚Ach, Jochen,‘ sagte er, ‚mit mir ist es aus, rein aus. Ich hab’ Vatern gebeten, er soll mich Landmann werden lassen, denn es würde doch seine Tage kein Rechtsverdreher aus mir; aber er sagt ja: ‚wir haben gar nichts, rein gar nichts‘; und die Aussteuer von meiner Schwester kann er nicht einmal bezahlen.‘“


(Fortsetzung folgt.)




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