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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

in eine Ecke warf. In früher Jugend war mir sogar die Musik zuwider, und wenn in unserm Hause gespielt wurde, schlich ich mich in den Garten hinaus, denn mein überreiztes Nervenleben ertrug sie nicht: sie machte mich melancholisch und thränenreich. Eins meiner Kinder, und zwar eins der kräftigeren, hatte in den ersten Jahren dieselbe Eigenheit: es schauderte und jammerte, wenn es rauschende Musik, z. B. Militärmärsche, vernahm; ein ernster Wink für Mütter und Erzieher, bei zarten Kindern im frühen Alter mit Clavierspiel und leidenschaftlichem Gesang vorsichtig zu sein. Uebrigens habe ich niemals musikalisches Gehör besessen und so auch beim Singen die Töne nicht treffen, noch weniger aber Melodien behalten können; mein Verständniß geht mehr auf die feste Form als auf das gefühlsweiche Element des Tones, so sehr auch jetzt Genuß edler und kunstreicher Musik mich erbaut und geistig steigert.

Und so war ich denn nach allen Seiten zum geistigen Darben verurtheilt. Einzig das religiöse Gebiet wurde mir weit aufgethan, und dort hinein nahm sogleich mein Geist einen kräftigen Anlauf.

Alle meine Erziehung ging auf Religion aus, da meine Eltern beide außer ihr keine Geisteserweckung kannten. Wenn mein Vater mit mir den Cornelius Nepos las, so machte er bei den Tugenden des Epaminondas die Bemerkung, daß in dem Charakter dieses Heiden auch wohl ein Christ sich spiegeln könne. Das ganze frische Leben der Natur wurde im Geiste der hebräischen Psalmendichter stets auf den persönlichen Gott zurückgeführt und jede sittliche Vorschrift aus der Bibel begründet. Alle weltliche Lebensfreude wurde mit irgend einer Bibelstelle todtgeschlagen. Lachte ein Kind einmal von ganzem Herzen, so setzte ein Spruch Salomonis sofort einen Dämpfer darauf. Tanzen war überaus sündlich, denn durch Tanzen hatte die Tochter der Herodias das Haupt des Täufers gewonnen.

Das Militärleben ist seiner Natur nach eine frische Weltlichkeit; vor ihm wurde also ein Abscheu in meine Seele gepflanzt, indem man es mir als die schrecklichste Strafe für Jugendfehler hinstellte, daß ich vielleicht Soldat werden müsse. Und das geschah wenige Jahre nach den Freiheitskriegen, in denen die allgemeine Wehrpflicht sich als den edelsten Beruf des Jünglings so glänzend bewiesen hatte! Man preßte durch solche heillose Verkehrtheit so viel Angst in mich hinein, daß ich um der Soldaten willen ungern nach Bonn ging und jeden derselben, der uns begegnete, überaus scheu und höflich begrüßte, damit er mich ja nicht mit in die Caserne schleppen möchte. So gewann denn das Gute wie das Verrückte bei uns eine biblische Grundlage. Die Bibel war uns überhaupt zum Lesen unbeschränkt überlassen: den sittlichsten Roman hielt man für gefährlich, aber das alte Testament schien für Kinder unbedenklich. Da meine Lesewuth also überall eingedämmt war, strömte sie unaufhaltsam auf die Geschichtsbücher der Bibel hin, und ich erwarb mir darin eine Belesenheit und Stellenkenntniß, die mich später in meinen theologischen Studien sehr gefördert hat. Hier half es nichts, daß man den Soldatenstand mir gehässig gemacht hatte, sondern mit wahrer Begeisterung las ich die Kriegsthaten des auserwählten Volkes. Die Gründung der ersten Bundesrepublik unter den Richtern entzückte mich; aber Flammen warf in meine Seele der heldenmüthige, nach schmerzlichen Opfern zuletzt siegreiche Guerillaskrieg der Makkabäerbrüder, um den väterlichen Freistaat aus der vom Auslande her aufgedrungenen Monarchie wieder herzustellen. Aus dem alten Testamente erwachten mir überhaupt die ersten geschichtlichen Begriffe von dem, was ein Volk, ein Staat und eine Staatsveränderung sei, und die großen Umwälzungen der vorderasiatischen Reiche dämmerten mit einiger Klarheit in meiner Seele auf.

So lebte ich mich tüchtig in die geschichtliche Vorbereitung des christlichen Glaubens hinein, aber der Glaube selbst, wie ich ihn aus dem Heidelberger Katechismus und aus meines Vaters Predigten schöpfte, ergriff mich nicht sonderlich. Der Vater hatte stets in solchen Landschaften gelebt, die vom Rationalismus des vorigen Jahrhunderts unberührt geblieben waren. Ueberhaupt hat die calvinische Kirche, der er angehörte, in Holland, dem Wupperthale und der französischen Schweiz die alte Rechtgläubigkeit gegen alle Einwirkungen moderner Philosophie weit eiserner festgehalten, als ihre hierin beweglichere lutherische Schwester; daher denn auch jetzt z. B. im Wupperthale schon für die nächsten Jahre ein um so jäherer Umschwung in den Pantheismus hinein sich leicht voraussagen läßt. Mein Vater namentlich war so vollständig orthodox, als ob Lessing und Semler nie in der Welt gewesen wären, und so behielten auch seine Predigten in der Manier, wie sie geordnet waren und die Bibel erläuterten, einen ganz altväterischen Anstrich. Wozu aber damals bei calvinischen Theologen das angebliche Wort Gottes sich herleihen mußte, mag ein einziges Beispiel aus Starke’s Erklärung des alten Testaments darthun.

Im Buche der Richter kommt irgend eine Stadt des gelobten Landes vor, welche Kiriath-Sefer, das heißt „Stadt des Buches“, heißt. Gott weiß oder weiß auch vielleicht nicht, warum die alten Philister besagtem Orte solch gelehrten Namen beigelegt haben; der fromme Bibelerklärer Starke zieht aber aus diesem Namen die Nutzanwendung, daß gottselige Fürsten darauf halten sollten, daß in ihrem Lande – eine Universität bestehe! Wundere man sich indessen über solchen Aberwitz nicht, denn dies ist doch nur ein vereinzelter Unsinn, und der Unsinn ist noch viel prunkender in Reih’ und Glied dahergezogen.

Der alte Krummacher in Elberfeld, der Oheim des vielbesprochenen gleichnamigen Kanzelredners, hat eine wohl mehr als jahrelange Reihe von Predigten blos über die hebräischen Namen von Lagerstätten gehalten, welche die Israeliten auf ihrem Zuge durch die Wüste besetzt hatten. Diese Predigten sind gedruckt, und ich selbst habe eine davon mit eigenen Ohren gehört. Der hebräische[WS 1] Name wurde hier auf alle mögliche Weise herumgekehrt, alle Bedeutungen, die er allenfalls haben konnte, herausgepreßt, und an jede Bedeutung knüpfte sich sodann ein Theil der Predigt, indem hieraus künstlich eine Belehrung über die innere Führung der Erlösten sich hervorspann. Und war dies nicht folgerichtig? Wenn doch nach der alten echten Eingebungslehre der heilige Geist jeden Buchstaben der Schrift dictirt hatte, warum sollte er nicht auch in den bloßen grammatischen Wortlaut tiefe Geheimnisse hineinlegen können, welche herauszuklauben er dann dem Kanzelwitz calvinischer Pastoren überließ? Sicher empfahl solche Lehre sich den Kanzelregenten um so dringlicher, als sie sowohl der Renommage mit hebräischer Gelehrsamkeit, als der Eitelkeit menschlichen Scharfsinns eine mastige Weide bot. So toll wie Jene hat nun wohl der Vater es niemals getrieben, allein sein Hebräisch wußte er doch auf der Kanzel recht oft des Breitern geltend zu machen, und nie zog er eine Bibelstelle an, ohne zweimal nach Capitel und Vers bekannt zu machen, wo sie stände. Auch wunderliche Nutzanwendungen gab er zuweilen zu vernehmen, wie denn jener vorerwähnte Starke sein geistliches Hauptrüsthaus gewesen ist, aus dem er seine sonntäglichen Schutz- und Trutzwaffen hervorholte. Von wirklicher Beredsamkeit oder auch nur von formloser, aber tiefer Gluth war bei ihm keine Spur; er gab eine ausführliche dogmatische Abhandlung über seinen Text, und mit der fast ohne Ausnahme stehenden Formel: „Was nehmen wir nun aus dieser Betrachtung mit nach Hause?“ ging er sodann auf das Feld der moralischen Nutzanwendungen über, durch welches er seine Zuhörer schleunig in’s Himmelreich zu führen und mit dem Amen den Riegel hinter ihnen zuzumachen pflegte, weshalb wir Kinder bei jener Formel uns immer freuten, denn nun war in höchstens zehn Minuten die Kirche aus, und wir durften wieder in den Blumengarten. Sonntags Nachmittags mußten wir dann den Katechismus aufsagen und erklären, manchmal aber auch die Predigt vom Morgen ihrer Eintheilung und ihrem Inhalte nach wiederholen. Da hier kein Entwickeln der Begriffe aus der Kinderseele heraus stattfand, sondern Alles nur von außen hineingelernt wurde, vermochte auch diese Uebung keine Glaubensflamme in mir zu entzünden, und als ich mehrere Jahre später confirmirt wurde, konnte ich zwar nach Lampe’s „Geheimniß des Gnadenbundes“ das coccejanische System so gut wie der gelehrteste Theolog aufsagen, allein ich habe umsonst versucht, bei dieser Gelegenheit die herkömmliche Gefühlsrührung des Einsegnungstages in mir zu erwecken.

Mit dieser ihrer christlichen Weltanschauung hing nun endlich ein anderer Erziehungsfehler meiner Eltern zusammen. Sie hielten es für ihre Pflicht, uns nicht ohne Schläge heranwachsen zu lassen. Diesen unsittlichen Grundsatz lehrt das alte Testament an mehr als einer Stelle; das Buch Jesus des Siraciden, das neben feiner Weltbeobachtung auch so viel einer edeln Natur Unwürdiges enthält, schreibt geradezu vor, daß man seinem Kinde den Rücken

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hebäische
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_501.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)