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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

recht bläuen und sich an seine Striemen und Thränen nicht kehren solle; und das neue Testament nimmt, obwohl in weniger empörender Weise, ebenfalls für die Ruthe Partei. Das gebildete Heidenthum hatte den Stock bereits aus der Hand des Erziehers verbannt, als die Apostelschriften ihn wieder einführten. Der erfahrene Jugendlehrer Quintilian, der selbst seine eigenen Knaben musterhaft erzogen und lange Jahren mit anderen Kindern Schule gehalten hat, erklärt sich in seiner Anweisung zur Beredsamkeit grundsätzlich gegen jede körperliche Züchtigung. Allein die Kirche hat in ihre Moral das Gegentheil aufgenommen, und sie hatte dazu einen Grund in einem ihrer falschen Lehrsätze.

In der Seele des Kindes treten eine Menge von Unarten hervor, die zur geistigen Entwicklung gerade so unvermeidlich sind, wie für den Körper die Zahnzufälle, Masern und Rötheln. Solche Unarten sind wie ein Hautschorf, der von selbst abfällt, wenn man ihn nur nicht reizt. Diese Ansicht kann aber der Christ nicht fassen, denn ihm ist jede kindliche Verkehrtheit ein Ausfluß der Erbsünde und folglich der Verdammung und Strafe würdig. Es giebt allerdings auch in den Kindern Eigenschaften, die auf spätere Eigensucht oder Leidenschaftlichkeit hinweisen; diese aber werden durch Schläge befestigt, wenn auch natürlich die Angst das Kind dazu treibt, sich eine Zeit lang zu verstellen. Das einzige niemals unwirksame Mittel, Kinderfehler wegzuerziehen, ist, daß man in der Seele des Kindes eine unwandelbare achtungsvolle Liebe zu der Person des Erziehers erhält, und durch sie jeden Verweis zu einem nachdrücklichen Seelenschmerz für das Kind macht. Diese Liebe aber leidet unbedingt durch’s Prügeln Schaden, und jeder Hieb schwächt somit die sittliche Einwirkung der Eltern ab. Denn schlägt der Vater seinen Knaben mit eigenem, offenbarem Zornmuth, so wird er dem Kinde ein schreckliches und abscheuwürdiges Grauenbild; züchtigt er aber mit Seelenruhe und aus kaltem Pflichtgefühl, so bläst er den Liebesfunken ganz und gar in der Kindesseele aus.

Nun waren allerdings Schläge in unserm Hause nicht häufig, und da wir von fremden Kindern keine groben Unarten lernten, wurde meist nur mit Worten gestraft. Ja, es kamen Fälle vor, wo sogar mit Weisheit die Erziehung auf rein sittliche Beweggründe sich stützte. So war es in unserm Hause eine harte Strafe, wenn ein Kind acht Tage lang den verehrten Mund des Vaters beim Schlafengehen nicht küssen durfte. Auch leuchtet mir noch wie ein helles Licht ein verständiges Wort meines Vaters, das in seiner Einfachheit mehr als aller Religionsunterricht und alle Hiebe auf die Sittlichkeit meines Charakters gewirkt hat. Es war irgend etwas Verkehrtes geschehen; der Vater, der es später entdeckte, kam mit ernster Miene auf mich zu und fragte: „Hast Du Das gethan?“ Zitternd sagte ich: „Nein.“ Da sprach er freundlich: „Ich glaube Dir, denn Du lügst nie.“ Das Wort ging wie eine Läuterungsflamme durch meine Seele; denn ich wußte wohl, daß ich doch früher bisweilen mit Lügen mich herausgewickelt hatte. Eine schon angefaulte Gesinnung würde aus jenem Ausspruch neue Frechheit zur Lüge eingesogen haben; ich in meiner Unschuld schämte mich vor mir selbst, daß der Vater einen besseren Glauben, als ich verdiente, von mir hatte. Aber aus der Scham wuchs nun von diesem Tage an der Stolz herauf, jene gute Meinung verdienen zu wollen; ich hätte es nicht mehr über’s Herz gebracht, eine Verschuldung abzuleugnen, und von da an hat denn mein Charakter nach dieser Seite hin sich rein entwickelt.




Israel auf Markt und Straße.


Mitteldeutsches Culturbild von Fr. Helbig.


„Er warf die Tische der Wechsler und Händler um und trieb sie hinaus aus dem Vorhofe des Tempels.“ Also spricht die Schrift. Der Fluch des Tempels, die Brandmarkung des Christenthums verfolgte die Hinausgestoßenen auch noch weiter von Jahrhundert zu Jahrhundert. Sie verstoben in alle Welt, mischten sich in alle Völker, krochen in alle Winkel der Erde. Die Verfolgung ging ihnen nach, aber sie vermochte sie nicht zu erdrücken, ja nicht einmal den Stempel ihres Ursprungs von ihnen zu wischen.

Es liegt etwas fast grauenhaft Erhabenes in dieser zähen Stetigkeit des auserwählten Volkes Gottes, die es sich zu bewahren vermocht hat innerhalb aller nationalen Ver- und Entwickelungen. Es ist die Geschichte dieses Volkes offenbar eins der interessantesten Probleme der Völkerpsychologie. Sie, die vertriebenen Wechsler und Händler des Tempels, haben der Handelswelt ein Schnippchen geschlagen, denn ohne daß man recht dessen inne ward und wird, haben sie sich die Gewalt und Herrschaft über sie erobert.

Wir denken dabei nicht blos an die großen Nabobs, bei denen „Könige betteln gehen,“ wir meinen ebenso gut die „kleinen Leute“ unter ihnen. Es ist in der That nicht blos das Israel der Paläste, es ist auch das Israel der Landstraße, welches in seinen bestimmten Territorien die Herrschaft über das Capital sich errungen hat. Es giebt namentlich in unserem Deutschland gewisse Landstriche, in welchen jüdische Niederlassungen sich finden, während andere ganz und gar von ihnen frei sind. Jene sind besonders die Gegenden, in welchen Viehzucht den Hauptnahrungszweig bildet. Zu ihnen gehören, wie uns Auerbach’s Dorfgeschichten belehren, der Schwarzwald, ferner – vergleiche Fritz Reuter – Mecklenburg und in Mitteldeutschland namentlich die Gegend vom Eichsfeld bis gen Franken, zwischen Thüringer-Wald und Spessart (Werrathal, Vogelsberge, Rhön).

Aus letzterer Gegend stammen die in dieser Skizze zusammengedrängten Beobachtungen, welche lediglich ein rein objectives culturhistorisches Interesse in Anspruch nehmen wollen.

Die Niederlassung verzweigt sich gewöhnlich nicht über das ganze Land, sondern concentrirt sich in einzelnen Ortschaften. Es sind dies zumeist solche, in welchen zu Zeiten des weiland heiligen römischen Reichs deutscher Nation Reichsritter und Reichsfreiherren als kleine selbstständige Herrscher saßen. Sie machten von dem ihnen vom Kaiser unmittelbar verliehenen Privileg, Juden aufnehmen zu dürfen (receptio Judaeorum), namentlich dann einen entsprechenden Gebrauch, wenn ihre eigene Finanzlage in eine bedenkliche Krisis getreten war. Sie erhoben von den eingezogenen Juden zu Gunsten ihrer Privatschatulle ein Schutzgeld und vertrauten gleichzeitig die Ordnung ihrer derangirten Cassenverhältnisse dem Scharfsinn und den specifisch rechnerischen Talenten eines von ihnen erwählten Hofjuden. Es ist dies der actlich angenommene Name dieser kleinen Finanzminister. Den Profit der Zukunft aus diesem Verhältnisse zog regelmäßig der tyrannisirte – um im Style der alten Zeit zu reden – Kammerknecht, indem er den noblen, aber kostspieligen Passionen seines Herrn neben den bereits gerühmten Talenten die Eigenschaften der Nüchternheit, Sparsamkeit und Genügsamkeit entgegensetzte.

Die Wiege so mancher Vorfahren unserer hohen Financiers stand an jenen Miniaturausgaben deutscher Fürstenhöfe.

Der so eingebürgerte Stamm Juda wußte sehr bald mit den gegebenen Verhältnissen zu rechnen, und die Verhältnisse waren auch seiner Rechnung günstig. Vor Allem traf er in den erwähnten Gegenden auf einen Bauernstand der seinen Wünschen entgegenkam. Geistige Unbeholfenheit und Beschränktheit, genährt und großgezogen durch Aberglauben und allerhand geistliche Einflüsse, auf der einen und eine schwere Belastung des ohnedies kärglichen Zins tragenden Grundbesitzes auf der andern Seite hatten die Hand in Hand gehende materielle und intellectuelle Entwicklung dieses Standes gehemmt. Das war eine Domäne für die geächteten Händler des Tempels. In diese träge Masse gossen sie bald die Quellen des ihnen zu Gebote stehenden Geldcapitals, machten es flüssig und nutzbar, während sich gleichzeitig ihr scharfer speculativer Verstand des vorhandenen geistigen Capitals bemächtigte. Daß er dafür sorgte, dabei nicht den Kürzeren zu ziehen, sondern sich das beste Theil gewann, wer dürfte ihm das verdenken? So geschah’s, daß der Jude der geistige und materielle Herrscher im Lande wurde, in dessen Besitz sich fast das ganze bäuerliche Betriebscapital befindet. Aeußerlich freilich sieht ihm Das Niemand an.

Nein, wahrlich nicht, wie er so dahingeht auf der Landstraße, den Leib halb übergebeugt, die Kniee einwärts gebogen, die starke orientalisch gekrümmte Nase aus einem Wuste langsträhniger oder lockig gerollter, glänzend schwarzer oder feurig rother Haare hervorragend,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_502.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)