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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

bis über meine Studentenjahre hinaus nachcuriren müssen. Allein trotz jenem Fehler des Buches rundete sich mir doch nun der Kreis der Weltgeschichte von den alttestamentlichen Reichen bis zu meiner Gegenwart einigermaßen ab, und mein zuverlässiges Gedächtniß sicherte mir dauernd eine ziemlich klare Verknüpfung der Begebenheiten.

Und nun trat denn auch die Poesie an mich heran und erlöste mich von der geistigen Dumpfheit. So oft die Mutter verreiste und mich fragte, was sie mir mitbringen solle, verlangte ich nur Bücher und immer wieder Bücher. Einige Erzählungen des gemüthvollen Verfassers der Ostereier wurden mir zu Theil, die mich höchlich entzückten, aber durch ihre religiöse Moral meinen Gesichtskreis nicht erweiterten.

Ein andermal kamen Holberg’s Fabeln mit in’s Haus, gewiß keine Kinderlectüre, aber ich verschlang sie und lernte sie fast auswendig. Nur die rechten Bücher, die eigentlichen Dichter blieben aus, denn eben die wollte man mir ja nicht in die Hände geben. Da erbarmte sich meiner und der Schwester jener Musiklehrer aus der Stadt, der ein gar wunderlicher Mensch war. Anlage zur Schwindsucht, der er auch unterlag, machte ihn griesgrämig und selbst polterig, aber im Herzen war er der wohlwollendste Mann. Bis zum Lächerlichen gesteigert, nährte er in sich einen Haß gegen alle katholischen Priester, den er gegen uns als Protestantenkinder ungefährdet aussprechen durfte. Obwohl er Musik mir nicht eintrichtern konnte, rührte ihn dennoch mein aufgewecktes Wesen, das er in pietistischem Dunstkreise verkommen sah, und er wußte einige Bücher in unser Haus zu bringen, deren Wirkung er dem Zufall und unserm guten Instinct überließ. So bekam ich von ihm Gellert’s Fabeln, meine Schwester aber Schiller’s Gedichte. Letztere waren mir anfangs zu hoch, und ich verstand namentlich die vielen Anspielungen auf griechische und römische Götterlehre nicht, die so Manches in Schiller’s lyrischen Gedichten dem Volke ungenießbar machen. Allein eben dies gab dem Musiklehrer Gelegenheit, auf die Nützlichkeit eines Buches über die antike Fabelwelt aufmerksam zu machen, und so kam mit des alten Ramler Mythologie auf einmal ein gewaltiger Gährstoff meiner Einbildungskraft in’s Haus. Mit diesem Führer trat ich nun rasch und freudig in Schiller’s hohe Gedankenwelt hinein und erhielt von diesem Dichter die ersten Eindrücke einer edeln und erhabenen Poesie. Seine Balladen wußte ich bald auswendig, aber auch seine philosophischen Gedichte übten mein Denken schon frühe. Das Einige, was mir noch zur vollen Ahnung der Dichtkunst abging, war die Leidenschaft, und diese gab mir Körner durch seine Rosamunde, die sich, ich weiß nicht mehr auf welchem Wege, ebenfalls zu uns verirrte. In ihr lernte ich an einem nicht mustergültigen, aber doch tief das Gemüth ergreifenden Werke zum ersten Mal die höchste aller Kunstgattungen, die Tragödie, kennen. Wenn Immermann Schillern einen Jugendschriftsteller nennt, so mag dessen Nachahmer Körner mit Wahrheit ein Schriftsteller für das Knabenalter heißen. Die Wirkung auf meine Seele war unermeßlich; obwohl erst acht Jahre alt, verstand ich ohne alle Unterweisung sofort die fremdartige dramatische Form. Es war wie ein Kernschuß mitten in mein Herz hinein: bei Rosamundens Tod sprang mein ganzes Leben aus Rand und Band, und wie ein Rasender lief ich im dunkeln Vorhaus auf und ab. Mutter und Schwester sahen meinen trunkenen Zustand und begriffen ihn nicht; doch nahm Jene sich fester als je vor, poetische Werke von mir abzuwehren. Das war möglich, so lange ich in Oberkassel unter ihren Augen blieb; aber für mich selber war nun die Brücke geschlagen, über welche ich, der elterlichen Aufsicht bald darauf entnommen, in die Bühnenwelt Schiller’s und dann zu den begeisternden Jugendstücken Goethe’s fortstürmte.

War es dieses Ausbreiten meiner Schwingen in’s Morgenroth der Dichtung oder mein körperliches Heranreifen, genug, meine Mutter fühlte, daß das Vaterhaus mir zu enge werde. Was ich dort lernen konnte, das verstand ich jetzt, und sie selber sah ein, daß sich manche geistigen Gebiete mir ohne Gefahr für mein Fortkommen in der Welt nicht mehr versperren ließen. Man beschloß also, mich Ostern 1825 in’s Gymnasium nach Bonn zu thun, obwohl ich erst neun Jahre alt war und somit nach der Strenge des Schulgesetzes noch nicht aufgenommen werden konnte. Aus einem Worte, das die Mutter später einmal fallen ließ, sah ich, daß sie noch einen anderen Grund hatte. Mein Vater war im Festhalten an begründeten sowohl, als an vorgefaßten Meinungen sehr beharrlich. So hat er sich lange Jahre der Einführung der Union und Agende in Oberkassel widersetzt, welche von dem vorigen Könige so eifrig betrieben wurde. Gleiche Unabhängigkeit stellte er stets den Hohen und Reichen der Welt entgegen und den Staatsbeamten wich er in Sachen, wo er Recht zu haben glaubte, auch nicht einen Fuß breit. Namentlich auf solchen Punkten, wo er inmitten unserer ganz katholischen Umgebung die Gerechtsame seiner reformirten Kirche auch nur im Mindesten beeinträchtigt sah, hatte er keine Ahnung von Menschenfurcht. So war es gleichfalls seine Weise, sich über Alles, was im Staate vorkam und seinem kirchlichen Sinne nicht gefiel, ohne alle Rücksicht auch vor den Kindern auszusprechen. Kam in der Geographie eine deutsche Residenz vor, und es wurden z. B. drei in ihrer Nähe gelegene fürstliche Lustschlösser erwähnt, so sagte er sehr ruhig: „Also zwei zu viel.“ Nun konnte meine Mutter den Vater zu Allem, was sie wollte, bringen, aber das Eine gelang ihr nicht, daß er diesen Freimuth ablegte oder auch nur in unserer Gegenwart zäumte. Bei meinem vor keiner Folge zurückbebenden Charakter fürchtete sie einen Einfluß, der, wie sie ahnend vorschaute, mein Lebensschicksal verwirren könne, und dies gab ihr einen Beweggrund mehr ab, mich aus dem Vaterhause in noch so zarten Jahren zu entfernen. Allein seinem Loose entgeht Niemand, und vergebens suchen wir auch unsere Kinder dem ihrigen zu entziehen.

Ich selbst verließ gern meine Heimath, ich wußte ja, daß ich einer größeren Freiheit entgegenging, und hoffte in breiterer Welterkenntniß von der geistigen Dumpfheit erlöst zu werden, die mich wie eine ägyptische Nacht drückte. Denn allerdings war ich damals ein gar wunderliches Zwitterwesen. Frühauf und über meine Jahre gelehrt, hatte ich doch in ganze große Gebiete des Lebens, die jeder Straßenjunge überschaut, noch niemals einen Blick gethan. Ich war bis zum Aeußersten empfindungsfähig und mein ganzes Wesen eigentlich nur ein fühlender Nerv, und doch stand ich in Geschmack und Kunst dem rohen Barbaren gleich. Streng rechtgläubig, ermangelte ich doch aller religiösen Innigkeit; einen Wurm hätte ich nicht tödten können, daß aber Gott einst das ganze Menschengeschlecht in der Sündfluth ersäuft habe und die nicht Auserwählten ewig zum Höllenfeuer verdamme, das glaubte ich. Meine Einsamkeit hatte mich menschenscheu und verschlossen in meinen innersten Gedanken gemacht; allein ich empfand ein grenzenloses Bedürfniß nach Mittheilung und Liebe, und meine Zärtlichkeit gegen die Meinigen war ohne Maß und Schranke. Ein Vorwurf meines Vaters brachte mich zum Zittern, und doch hätte ich für jeden Punkt des Katechismus, ohne zu erbleichen, den Scheiterhaufen bestiegen, ehe ich meinen protestantischen Glauben verleugnete. Ich war nicht ohne Stolz auf mein Wissen, aber jeder Handgriff eines Arbeiters, den ich zum ersten Mal lernte, demüthigte mich. Und so stand ich denn ganz als das sonderbare, mir und Anderen räthselhafte Wesen da, wie ich nothwendig aus einer Erziehung hervorgehen mußte, die auf der einen Seite mir die wirkliche Welt verschloß, von der andern aber wieder so heftig den Sporn des Fortschritts in meine nachgiebige Seele drückte.

Hier aber, auf dem ersten Wendepunkte meines Lebens, sorgte mein Schicksal dafür, mir auf Einen Augenblick die lichte Gestalt zu zeigen, die dereinst aus diesen und allen späteren Nebeln meinen Geist erlösen sollte.

In meinem Heimathdorfe besitzt die reichsgräfliche Familie zur Lippe-Biesterfeld, welche dort einen stattlichen Herrnsitz bewohnt, viele Grundstücke. Darunter befindet sich eine mit Weinstöcken bepflanzte Terrasse am steilen Rheinufer, die auf ihrer obern, reinlich besandeten und von einer Brüstungsmauer umschlossenen Fläche einen kleinen Pavillon trägt. Die Aussicht von diesem Plätzchen ist herrlich: man sieht mit Einem Blicke Siebengebirge und Godesberg, während abwärts Bonn mit der prachtvollen Schloßfront und dem fünfthürmigen Münster im Rheine sich spiegelt und am Abend seine dunkeln Glockentöne über die purpurglühende Stromfläche herübersendet. An diesen Platz führten wir regelmäßig Fremde, die uns besuchten, und ich selbst saß oft als Knabe dort, um im Anblick der weiten Ebene zu träumen und auf die Eidechsen zu lauern, die aus den brüchigen Steintreppen und Geländern der Terrasse im warmen Sonnenstrahl hervorschlüpften.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 521. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_521.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)