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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Haus; in Fällen, welche Berücksichtigung verdienen, wird sogar an Jahren und Einlagecapital nachgelassen, um würdigen Personen den Einzug zu ermöglichen. Sollte aber einem Insassen des Stifts eine Erbschaft zufallen, die ihm das Leben auf eigene Faust wieder gestattet, so kann er jeden Augenblick die Anstalt verlassen, muß aber für jedes Jahr des Aufenthalts im Stift achtzig Thaler entrichten und, falls das Einlagecapital die erwachsene Summe nicht deckt, den Rest nachbezahlen. Diese Fälle kommen vor, ja es haben weibliche Bewohner das Stift schon verlassen, um wieder in die Ehe zu treten.

In diesem Hause gewährt sogar das Sterberegister einen wohlthuenden Einblick. Nichts spricht für die sorgfältige Pflege der Alten in diesem Stift besser, als die Zahlen der Altersjahre: weit unter achtzig ist selten ein Insasse geschieden, die meisten sind über achtzig Jahre alt geworden. Und dies geschah selbst zu der Zeit, wo noch die Oekonomiepächter des Stifts auch die Verpflegung besorgten und wo es wohl vorkommen konnte, daß Gesinde und Stiftsleute aus einem Kessel gespeist wurden. Gegenwärtig ist auch diese veraltete Einrichtung beseitigt, die Oekonomie von der Stiftung getrennt, alles Feld verpachtet und der Gebäudecomplex des alten Johannishospitals zu anderen Zwecken verwendet und umgebaut. In das neue Johannisstift ist keinerlei Erwerbszweck mit eingezogen, es ist ausschließlich der Pflege unserer guten Alten gewidmet.

Betrachten wir unser Stift nun in der Nähe. Mit der Oberleitung des Baues desselben war der Leipziger Architekt Lipsius betraut worden, weil dessen in Folge der ausgeschriebenen Concurrenz eingereichter Entwurf den Preis davongetragen hatte. Seine Aufgabe war zwar nur ein Nützlichkeitsbau, aber auch an diesen stellt er die sehr beachtenswerthe Anforderung: „daß er die bezeichnenden Merkmale seiner inneren Wesenheit zur äußeren Erscheinung bringe“.[1] Und daß der Mann sich selbst Wort gehalten, das beweist sein fertiger Bau, und die beigegebenen Abbildungen sind Zeugen dafür.

Ueber die Größe und besonderen Erfordernisse und Ausführungen des Baues müssen wir einige Zahlen sprechen lassen. Die Baustelle nimmt einen Raum von 45,970 Quadratellen ein; sie gehört zum Grundeigenthum des Stifts und zwar zu den Hunderten der kleinen Familiengärtchen des Johannisthals, einer der originellsten, lieblichsten und heilsamsten Anlagen von Leipzig, die leider durch städtische und Staatsbauten immer mehr verkürzt und sichtlich ihrem Untergang entgegengedrängt wird. – Die Länge des Hauptgebäudes, das aus einem Mittelbau, zwei Zwischenbauten und zwei Eckpavillons besteht, beträgt 234 Ellen, die jedes der beiden Flügel 115 Ellen bei einer Tiefe von 25 und einer Höhe bis zum Dachfirst von 41 Ellen. Die Höhe des Mittelbaues vom Straßenniveau bis zum Dachfirst beträgt 49⅛ und bis zur Thurmspitze 84⅜ Ellen.

Zu beiden Seiten des Hauptgebäudes liegt links gesondert ein Wirthschaftsgebäude mit Leichenstube, Secirstube, Auctionslocal, Waschhaus, Pferdestall, Schweinestall, Schlachthaus, Eiskeller und Hausmannswohnung, und rechts das Desinfectionshaus.

Als Mauermaterial brauchte man Granit, Postelwitzer Sandstein und etwa fünf Millionen Stück Ziegelsteine, unter welchen besonders die Verblendsteine von Stange und Müller in Greppin gerühmt werden. Das Dach des Hauptgebäudes, ein Flächenraum von 18,564 Quadratellen, ist mit glasirten Dachziegeln von Rudolph in Meißen eingedeckt, der Mittelbau reicher, die übrigen Gebäudetheile einfacher im Schmuck der rothen, braunen, schwarzen, grünen und gelben Ziegel. Das Schwierigste bot im Anfange der Arbeit die Schiefheit der Baufläche, denn dieselbe war im Johannisthal über zwölf Ellen tiefer als oben an der Hospitalstraße, welcher der Bau seine Fronte zukehren sollte. Nicht weniger als 270,000 Kubikellen Füllmaterial mußten hier aufgefahren werden. Trotzalledem und trotz des großen französischen Kriegs wurde das am 10. April 1869 begonnene Bauwerk im Frühjahr 1872 vollendet, und als der Baumeister das fertige Gebäude den Stiftsvorstehern übergab und diese die Verbrauchssumme von 374,443 Thalern mit der Veranschlagssumme von 402,328 Thalern verglichen, erfreute sie das seltene Glück einer Bauersparniß von nahe an 28,000 Thalern. Daher erlebten die Bauherren, der Bau- und alle Werkmeister einen gerechten Triumph, als der vollendete Bau am 6. Juli dieses Jahres feierlich eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben wurde.

Nunmehr sind die sämmtlichen Insassen des alten Johannishospitals in das neue Johannisstift eingezogen, und wenn wir nun das Innere betreten, begegnen wir überall dem schon eingewohnten Leben. Wie sorglich hier Alles bis auf’s Kleinste für das Alter berechnet ist, erkennen wir gleich an den Treppen: bequemer sind sie nicht herzustellen. Ueber sechs Stufen einer Freitreppe betreten wir durch die mittlere der drei Hauptthüren des Mittelbaues die große Treppenhalle (Vestibüle, vergl. unsere Abbildung), welche den ganzen Raum des Parterre und ersten Stocks desselben einnimmt. Diesen drei Thüren entsprechen drei gleich große auf der entgegengesetzten Hof- oder Gartenseite des Baues. Von beiden Seiten aus schreitet man einer Freitreppe im Innern zu, welche nach links und rechts auf Halbbogen emporsteigend zur ersten Etage des Hauptgebäudes und zunächst zu Vorhallen führt, welche sich trefflich zu Ruhe- und Erholungsplätzchen eignen. Außer dieser Haupttreppe hat das Gebäude noch in den Ausbauten der Flügel gelegene massive Nebentreppen.

Ueber der Treppenhalle des Mittelbaues befindet sich der allgemeine Krankensaal und darüber die Bethalle in Basilikenform. Dadurch scheidet dieser Mitteltheil den Bau so, daß, wenn eine Trennung der Insassen nach Geschlechtern wünschenswerth würde, sie jeden Augenblick eingeführt werden könnte. Besteigen wir eine der Treppen, die uns zu den Corridoren führen. Hier sind zu beiden Seiten die Thüren zu den Wohnungen der Insassen und ist jeder Thür gegenüber die Nische für den Kleiderschrank. Da, wo die Corridors sich kreuzen, im Mittelpunkte der Pavillons, erweitern sie sich zu Rotunden und gewähren für die ganz alten Spaziergänger namentlich bei übler Witterung passende Ausruheplätze; zu trefflichen Plauderstübchen eignen sich auch da sogenannten Lichtfänge, welche das Seitenlicht in die Corridors lassen und zum bequemen Gebrauch beim Kaffeekochen sowie bei der Vertheilung der Speisen und Getränke und der Reinigung der Geschirre mit Kamin, Tisch, Gußstein und Wasserzuführung ausgestattet sind.

Wahrhaft großartig ist die Sorge für die Reinlichkeit in jeder Weise. Durch doppelte Verschlüsse von den Corridors getrennt sind die Privete noch außerdem desinficirt, und ihr Inhalt geht außer dem der Aschen- und Kehrichtrutschen, die Gruben für sich haben, demselben Ziele zu wie der Abfluß aus den Bädern der Küche, der Bäckerei, den Gußsteinen, dem Krankensaale etc., nämlich dem großen Sammelbassin im untersten Raume. Von da wird die ganze desinficirte Masse mittelst Druckpumpe zu dem Desinfectionshause und in das vier Ellen vom Boden hoch stehende Klärbassin gehoben, aus welchem dann das geklärte Wasser in die Straßenschleußen abläuft, während man den festen Rückstand in ein noch höheres Bassin hebt und dann als werthvollen Dünger abführt. Es ist also auch hier, wie im neuen Krankenhause, das Süvern’sche System in großem Stil zur Anwendung gekommen.

Die gleiche Reinlichkeit herrscht auch in den Stuben. Man weiß, wie schwer oft alte Leute zu bewegen sind, die Fenster zu öffnen, um frische Luft einzulassen. Dieser Nothwendigkeit sind sie nun ganz enthoben, denn für frische Luft in jeder Stube sorgt ein Ventilationscanal, der hinter dem Ofen durch Klappen mit dem Corridor in Verbindung steht. Die Ventilation der Corridors, des Vestibüles, des Bet- und Krankensaals, der Küche, Privete etc. wird dadurch bewirkt, daß mit Heizessen verbundene Saugessen die verbrauchte Luft abführen, während die frische, zur kalten Jahreszeit auf zwölf Grad Réaumur erwärmte Luft direct eingeführt wird. Diese Erwärmung der Luft geschieht in sechs Calorifères, welche Ingenieur Kelling in Dresden geliefert hat. Die Zimmerheizung geschieht in Stubenöfen; für die Aufbewahrung des jedem Insassen gewährten Heizmaterials erhält jeder einen Keller- oder Bodenraum, der die Nummer seines Zimmer trägt.

„Wollen Sie nicht eintreten?“ fragt uns ein steinaltes Mütterchen. Sie sagt uns gleich selber, daß sie sechsundachtzig Jahre alt sei und immer so müde Beine habe. Das Mundwerk ging aber mit ergötzlichster Geläufigkeit und aus dem verrunzelten Gesichtchen lachten noch recht muntere Augen. Ihr Zimmer war auf’s Behaglichste eingerichtet, wie wir das auch bei allen anderen fanden. Da Thür und Ofen die dem Fenster gegenüberstehende Wand einnehmen, so sind für Bett und die anderen Möbeln zwei

  1. Vergleiche den Separatabdruck aus den Protokollen der fünfundsiebenzigsten Hauptversammlung des sächsischen Ingenieur- und Architektenvereins.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_525.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)