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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Fällen gar keinen. Ja, sollte man es glauben, der Anblick eines Blitzes, der zuckend aus einer Wolke zur Erde herniederfährt, giebt gar keinen sicheren Anhaltspunkt darüber, ob der Blitz aus den Wolken zur Erde herabstürzte oder von der Erde gegen die Wolken herauffuhr. Und wenn auch Tausende einen Blitzstrahl aus einer Wolke zur Erde herabfahren sehen, so hat die übereinstimmende Wahrnehmung dieser Tausende noch ganz und gar keine Bedeutung für die Entscheidung der Frage, nach welcher Richtung sich der Blitzstrahl bewegte, ob von der Wolke zur Erde oder von der Erde zur Wolke. Unter Hunderttausenden von Blitzschlägen gestatten nur verhältnißmäßig wenige einen sicheren Schluß über die Richtung der Bewegung des Blitzes, nämlich ob aufsteigend oder niedersteigend. In dieser Hinsicht kann sich Niemand die Bedingungen der Erscheinung wählen, sondern muß dieselbe beobachten, wie sie eben auftritt; denn der Blitz ist, wie Voltaire sagt, ein großer Herr, dem man sich nur mit äußerster Vorsicht nahen kann, der es aber durchaus nicht duldet, daß man mit ihm Versuche anstellt. Trotzdem hat eine genaue Untersuchung vieler tausend Blitzschläge nunmehr eine Anzahl von Fällen ergeben, aus welchen sich hinterher ziemlich sichere Schlüsse über die Richtung der Bewegung des Blitzes oder richtiger über die Lage seines Ausgangspunktes ziehen ließen. Ich will einige solcher Fälle anführen.

Im Sommer 1787 wurden bei dem Dorfe Tacon in der Gegend von Beaujolais zwei Menschen, die sich während eines Gewitters unter einen Baum begeben hatten, vom Blitze getödtet. Man fand die Haare der Unglücklichen hoch auf dem Baume, und ein eiserner Ring aus dem Holzschuh des Einen hing an einem hohen Zweige. Am 29. August 1808 schlug der Blitz in das Gartenhaus einer Schenke hinter dem Spitale der Salpetrière in Paris. Ein Arbeiter, der sich zufällig dort befand, wurde. getödtet; man fand Stücke seines Hutes in der Decke haftend. Ein Mann hielt sich zur Zeit eines Gewitters im zweiten Stockwerk eines aus Backsteinen gebauten neuen Hauses auf, als ein Blitz durch das erste und zweite Stockwerk hindurchschlug und den Mann sofort tödtete. Seine Mütze wurde emporgeschleudert und fand sich andern Tages an der Zimmerdecke zwischen den Latten.

Noch andere Beispiele habe ich in meiner Schrift „Das Gewitter“ gesammelt, aber schon die angeführten beweisen, daß mitunter der Blitz aus dem Boden hervordringt und in die Luft hinaufschlägt. Im Allgemeinen muß man annehmen, daß bei jedem Blitzschlage gleichzeitig ein Strahl aus der Wolke und aus dem Erdboden hervorbricht und beide sich in der Luft vereinigen. Die ungeheure Geschwindigkeit des Blitzfunkens verhindert jede genauere Wahrnehmung beim directen Anblick. Aus den Untersuchungen von Wheatstone hat sich ergeben, daß die wirkliche Dauer des Blitzes noch nicht den tausendsten Theil einer Secunde beträgt. Beim unmittelbaren Anblick des zuckenden Blitzes ist Jeder gern geneigt, demselben wenigstens eine Dauer von einer Secunde zuzuschreiben und den Blitz selbst für einen langen, im Zickzack dahinfahrenden Feuerstreifen zu halten. Allein diese Wahrnehmungen sind nichts als Täuschungen. Wenn man ein kleines Stückchen glühender Kohle rasch herumschwingt, so glaubt man eine ununterbrochene glühende Kreislinie zu sehen, weil der Lichteindruck von jedem Punkte des Weges der glühenden Kohle längere Zeit im Auge andauert, als die Kohle gebraucht, den ganzen Weg zurückzulegen. Ganz ebenso verhält es sich mit dem Blitz. Derselbe ist ein gewaltiger elektrischer Funken, der einen zickzackförmigen Weg durch die Luft zurücklegt. Dieser Weg stellt sich aus dem soeben angegebenen Grunde als eine leuchtende zickzackförmige Linie dar, und die Zeit von etwa einer Secunde oder weniger, während welcher diese zickzackförmige Linie sichtbar wird, ist daher nicht die Zeitdauer des Blitzes, sondern die Zeitdauer, während welcher die Lichtempfindung im Auge haften bleibt.

Eine Folge der ungeheuren Schnelligkeit des Blitzes ist die Thatsache, daß nach Allem, was wir hiervon wissen, der Tod durch den Blitz völlig schmerzlos ist. Man hat viele Beispiele, daß Menschen vom Blitze getroffen und betäubt, jedoch nicht getödtet wurden. Als sie wieder zu sich kamen, wußten sie nichts von Dem, was mit ihnen vorgegangen war; sie hatten weder den Blitz gesehen, noch seine Wirkung verspürt. Ein Mann, der vom Blitze getroffen worden, wußte sich, als er zum Bewußtsein kam, des Vorganges nicht zu erinnern, sondern fragte verwundert, wer ihn geschlagen habe. Am 22. Januar 1849 schlug der Blitz in der Nachbarschaft von Clermont ein und richtete große Verwüstungen an. Herr Desormery ritt gerade die Landstraße entlang, als ein heftiger Schlag erfolgte. Er selbst, ohne übrigens irgend etwas davon zu vernehmen, stürzte herab, und ebenso wurde sein Pferd zu Boden geschleudert. Wie lange Herr Desormery ohnmächtig am Boden gelegen, vermag er nicht anzugeben; als er wieder erwachte, spürte er keinerlei Schmerz und war ganz ohne Verletzung davongekommen. Der Blitz hatte seine seidene Börse durchlöchert und mehrere silberne Geldstücke zusammengeschweißt. Eine der nebenan befindlichen Pappeln war gänzlich niedergeschmettert. Die Rinde derselben erschien wie von Menschenhand abgeschält, und die Zweige waren zerrissen. Eine in der Nähe befindliche Ziege war von demselben Blitzstrahl erschlagen worden. Man fand sie auf den Beinen stehend an einer Hecke angelehnt und noch ein grünes Blatt im Munde haltend, das sie im Augenblicke des Schlages abgeweidet hatte. Reimarus berichtet einen Fall, wo zwei Menschen, die, um dem Gewitter zu entgehen, hinter einer Hecke Schutz gesucht hatten, dort vom Blitz erschlagen wurden. Man fand sie ganz in ihrer früheren Lage, mit offenen Augen; der Eine hielt noch ein Stück Brod in der Hand, das er einem Hunde, der auf seinem Schooße saß und mit ihm erschlagen wurde, reichen wollte.

Diese Beispiele, welche ich leicht vermehren könnte, beweisen daß der Tod durch den Blitzschlag so schnell eintritt, daß der Getroffene nicht Zeit hat, auch nur eine einzige Bewegung auszuführen. Das Gleiche ergiebt sich auch aus folgender Ueberlegung.

Das Nervensystem ist bekanntlich der Apparat, mittelst dessen alle Empfindung zu Stande kommt. Die Nerven leiten jeden Eindruck zum Gehirne, wo er als Empfindung zum Bewußtsein gelangt. So schnell nun auch dieser Rapport überbracht wird, so bedarf es doch immer einer gewissen Zeitdauer. Mittelst sehr sinnreicher Vorrichtungen, auf deren Beschreibung ich aber hier nicht eingehen kann, hat man gefunden, daß die Geschwindigkeit, mit welcher eine Bewegung in den Empfindungsnerven fortgepflanzt wird, ungefähr hundert Fuß in der Secunde beträgt. Die Geschwindigkeit des Blitzes ist um viele Hunderttausend Mal größer, da er den Beobachtungen zufolge in weniger als einer tausendstel Secunde einen weiten Weg durch die Atmosphäre zurücklegt. Nachdem dies einmal feststeht, begreift man leicht, daß ein Blitzstrahl das Nervensystem und seine Empfindungsfähigkeit gänzlich zerstören kann, ehe die Empfindung dieses Vorganges selbst bis zum Gehirn fortgeleitet und hier wahrgenommen werden könnte. Man darf also dreist behaupten, daß der Tod durch den Blitz die angenehmste Art und Weise von allen sein muß, das Leben zu verlieren. Indessen verliert Niemand gern sein Leben, selbst wenn dies auf die angenehmste Weise von der Welt geschehen sollte; deshalb denn die Angst sehr Vieler, wenn während des Gewitters Blitze das Firmament durchzucken und vollends Donnerschläge ihnen folgen. Wenn solche ängstlichen Leute das vorstehend Gesagte gehörig überlegen, so können sie daraus eine sehr große Beruhigung schöpfen. Denn da der Blitzschlag momentan das Bewußtsein aufhebt, so ist klar, daß ein Blitz, den man sieht, nicht mehr zu fürchten ist.

Unmittelbare Bekanntschaft mit dem Blitze zu machen, dazu bietet sich in den überwiegend meisten Fällen keine Gelegenheit. Sehr interessant ist es daher, die Berichte von Leuten zu hören, die unfreiwillig in nähere Berührung mit Gewitterwolken kamen, indem sie auf hohen Bergen von Gewittern überfallen wurden. Gegenwärtig sind indeß nur wenige Beispiele bekannt, daß Menschen sich eine Zeitlang mitten in Gewitterwolken befanden, und diese wenigen Fälle haben noch dazu einen sehr verschiedenartigen Ausgang gehabt.

Ich will die merkwürdigsten dieser Fälle hier mittheilen.

Herr Apotheker Pfeffer ging in Begleitung eines Bekannten am 15. Juli 1839 über den Col de Balan nach Chamouny. Als Beide gegen vier Uhr Nachmittags noch etwa eine halbe Stunde von der Paßhöhe entfernt waren, wurden sie von einer schon vorher aufgestiegenen Gewitterwolke überfallen, die sich immer tiefer herabsenkte und die beiden Wanderer umhüllte. Ein heftiger Regen durchnäßte sie bald bis auf die Haut, und dabei war es so finster und nebelig, daß sie kaum fünf Schritte weit zu sehen vermochten. Blitze fuhren hin und her, doch vernahm man keinen Donner.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_537.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)