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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

mich sehr richtig auf fünfzig und einige – sagen wir sechsundfünfzig. Aber wir Juden –“

„Sie sind Jude?“ fragte Gotthold.

„Reinster Race,“ erwiderte Herr Wollnow; „haben Sie das nicht gesehen, als ich vorhin Ihr Geld so eilig wieder in den Schrank schloß? – Reinster polnischer Race, wenn ich auch meiner Frau zu liebe, die hinreichend unter dem Judenthum gelitten zu haben erklärte, und auch aus geschäftlichen Gründen, den für mich sehr leichten Schritt aus einer positiven Religion, die mir gleichgültig war, in eine andere, die mir nicht minder gleichgültig war, gemacht habe. Aber was ich sagen wollte: wir Juden oder wir jüdisch Erzogenen sind hinsichtlich der Ehe ebenso wenig wie in anderen Dingen Romantiker, sondern halten uns an das Gesetz; ich meine hier das Gesetz der Natur, das freilich gar nicht romantisch, sondern sehr nüchtern, aber desto logischer ist.“

„Und da meinen Sie, daß eine größere Differenz in dem Lebensalter der Gatten eines dieser streng zu beobachtenden Naturgesetze sei?“

„Keineswegs, nur unter Umständen kein Hinderniß.“

„Gewiß nicht, aber –“

„Verstatten Sie mir, meine Meinung durch einige statistische Daten zu erläutern. Ich stamme aus einer langlebigen Familie. Mein Großvater soll – er wußte weder den Ort noch die Zeit seiner Geburt genau anzugeben – über hundert Jahre alt gewesen sein, als er, erblindet freilich und gelähmt, aber noch in fast ungeschmälertem Besitz seiner geistigen Kräfte, starb. Mein Vater wurde neunzig Jahre. Ich, der ich es mir nicht mehr ganz so sauer werden zu lassen brauchte, konnte vor sechs Jahren bereits, in meinem fünfzigsten Jahre, heirathen, und so habe ich die Aussicht, mein kleines Dreigespann, auch wenn uns noch ein Zuwachs dazu geschenkt werden sollte, aufwachsen und erwachsen zu sehen, vorausgesetzt, daß ich die achtziger Jahre etwa erreiche, worauf ich väterlicher Seits, wie Sie mir zugeben werden, die gegründetsten Ansprüche habe.“

Herr Wollnow drückte die starken Schultern behaglich in die Lehne seines Stuhles und strich sich mit beiden Händen über die breite Stirn und das dichte schwarze Haar, in welchem Gotthold noch nicht den leichtesten grauen Streifen bemerken konnte. – „Sie sind also,“ sagte er, „wenn ich Sie recht verstehe, der Ansicht, daß die Ehe in erster Linie den Kindern zu Gute kommen soll, wobei es sich denn nur noch darum handelt, auf die Zeichen der Zeit zu achten, in welcher und für welche die Kinder geboren werden.“

„Durchaus,“ erwiderte Herr Wollnow, „in erster Linie, ich möchte fast sagen: in erster und letzter.“

„Und die Gatten?“

„Sollen und werden in der Liebe zu ihren Kindern, in der Freude an der neuen, jungen Welt, die aus ihnen geboren ist, ihr Genüge finden und eine ausreichende Entschädigung für die verlorenen Illusionen und eine Belohnung für die Sorgen, die Entbehrungen, welche ihnen aus dieser Liebe und Freude nothwendig erwachsen.“

„Und ihre Liebe, ihre eigene Liebe, die Liebe, die sie zusammenführte, aus der unzähligen Menge der Möglichkeiten heraus diese, gerade diese Wahl treffen ließ – die Liebe, die nur immer wachsen und wachsen muß, bis sie zuletzt jeden Gedanken durchleuchtet, jedes Gefühl erhöht, jeden Blutstropfen erwärmt – sie wollten Sie aus der Ehe nehmen? oder als etwas ausgeben, das da sein kann oder auch nicht sein kann? Nimmermehr! Liebe ist allenthalben, außer in der Hölle, sagt Wolfram von Eschenbach. Ich weiß nicht, ob er Recht hat, das aber weiß ich, daß eine Ehe, in der keine Liebe, ja, was sage ich? die Liebe nicht ist, wie ich sie fasse, in meinen Augen die Hölle ist.“

Gotthold hatte mit einer Leidenschaft gesprochen, die, so sehr er dieselbe zu unterdrücken sich bemühte, den scharfen Ohren seines Wirthes nicht entgangen war.

„Lassen Sie uns das Thema abbrechen,“ sagte er mit Freundlichkeit, „und uns ein anderes suchen, über welches wir uns gewiß leichter verständigen werden.“

„Nein, lassen Sie uns dabei bleiben,“ sagte Gotthold; „es liegt mir daran, über einen so wichtigen Punkt die Ansicht eines Mannes zu hören, dessen Urtheil und Charakter ich so hoch schätze, – die ganze Ansicht; denn ich bin überzeugt, daß Sie noch gar Vieles zu sagen haben.“

„Gewiß,“ erwiderte Herr Wollnow zögernd; „gar Vieles, aber ich fürchte: Weniges, was Ihnen, wie Sie jetzt über die Ehe denken, gefallen wird. Ich sage, wie Sie jetzt denken, und bitte, mir das nicht übel zu deuten, denn Sie, der Sie in romantischen Traditionen aufgewachsen sind und, als Künstler, vielleicht noch ganz besonders zu einer idealistischen Auffassungsweise der menschlichen Dinge neigen, können wohl kaum anders als durch die eigene Erfahrung von Ihrer vorgefaßten Meinung zurückkommen. Aber immerhin: ich müßte von der Richtigkeit meiner eigenen Meinung weniger fest überzeugt sein, als ich es bin, oder meinen Gegner minder hochachten, als ich es thue, wollte ich Ihren letzten Satz ohne Erwiderung lassen. Sie sagten, daß ohne die Liebe, wie Sie sie so beredt schilderten, die Ehe eine Hölle sei; ich behaupte, daß gerade diese Liebe, oder vielmehr der nicht verwirklichte Traum dieser Liebe sehr viele, nur zu viele Ehen zu einer Hölle macht.“

„Nicht verwirklicht,“ sagte Gotthold; „o ja, das eben ist das Unglück.“

„Ein unvermeidliches, oder doch wenigstens ein in unzähligen Fällen nicht zu vermeidendes. Sie werden mir zugeben, daß die meisten Ehen schon mit diesem, je nach der Natur und dem Bildungsgrad der Träumer, mehr oder weniger glänzenden Traume beginnen, – beginnen müssen, um überhaupt zu beginnen. Es giebt so wenig Menschen, welche nicht noch besonders dafür belohnt sein wollen, daß sie thun, was sie der Natur und der Gesellschaft schuldig sind. Sehen sie nun hinterher ein, daß es sich in der Ehe um ganz andere Zwecke handelt, als um die Verwirklichung ihrer Träume, und diese Zwecke um so besser erreicht werden, je weniger man träumt, so reiben sich die Meisten allerdings im Anfang ein wenig verwundert die Augen, nehmen die Sache aber nicht weiter tragisch, sondern wie sie ist; und das sind die Ehen, welche ich – mit aller schuldigen Hochachtung vor der Menschheit, die ja aus Durchschnittsmenschen besteht, – Durchschnittsehen nenne und die ich in Deutschland, in England, in Amerika, auch in Frankreich, Italien, so weit ich nur auf der civilisirten Erde herumgekommen bin, einander ähnlich gefunden habe, wie ein Ei dem andern. Es ist, Alles in Allem, sehr trockne, aber sehr gesunde Prosa, die hier zu Hause ist; viel bescheidenes, ruhiges Glück, natürlich auch viel, sehr viel Leid; aber doch keines, was nicht dem Menschen als solchem – ich meine, der gebrechlichen, leicht verletzlichen, endlich dem Tode verfallenen Creatur – zukäme, und sehr wenig, was aus der Ehe resultirte. Das aber findet sich in überreichem Maße da, wo die Menschen den Traum, den sie als Liebende geträumt, durchaus realisiren, ja, in eine noch glänzendere Wirklichkeit verwandeln wollen. Wie viel herzbrechende Kämpfe, wie viel vergebliches Ringen, wie viel vergeudete und, lieber Himmel, zu so viel wichtigeren Zwecken hochnöthige Kraft, wie viel sinn- und nutzlose Grausamkeit gegen sich selbst, gegen den Andern! Sie sehen, ich spreche nur von den Menschen, die es ernst meinen mit dem Leben; ich spreche nicht von der Gemeinheit des Stumpfsinns, der keiner moralischen Ideen fähig ist, noch von der womöglich noch größeren Gemeinheit der Frivolität, die aller Moral ein freches Schnippchen schlägt.“

„Ich weiß es,“ erwiderte Gotthold, „aber weshalb sollten ernste, ehrliche Menschen, wenn sie sich ihres Irrthums bewußt werden, nicht, so lange es noch Zeit ist, den Fehler, der sich in die Rechnung ihres Lebens eingeschlichen hat, wieder herauszubringen suchen?“

„Wodurch?“

„Dadurch, daß sie sich einer dem andern die Freiheit wieder geben.“

„Die Freiheit? Welche Freiheit? Die Freiheit, sich möglichst bald wieder zu fesseln, möglichst bald wieder eine neue Wahl zu treffen, wenn sie eine solche, wie es meistens der Fall ist, nicht bereits zuvor getroffen hatten; eine neue Wahl, die voraussichtlich nicht klüger, umsichtiger ausfallen wird, als die erste. Bedenken Sie, wir sprechen von ernsten, ehrlichen Menschen! Nun, so gingen sie doch wohl auch bei der ersten Wahl ernst und ehrlich zu Werke, und irrten sie sich, trotz alles Ernstes, trotz aller Ehrlichkeit, wo sie doch frei und unbefangen wählen konnten, sollten sie das zweite Mal unter dem Druck selbstgeschaffenen Leides, geblendet von einer verbrecherischen Leidenschaft – sehen Sie, wenn ein neuer Commis die erste Calculation, die ich ihn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_542.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)