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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

englische Lords, amerikanische Speculanten und Berliner Gründer berechnet. Der Zusammenfluß der Fremden schuf hier eine kleine Industrie, die mitunter in

Am Gießbach: Der Wilde von Fach.

seltsam phantastischen Erscheinungen sich kundgiebt. So sahen wir einen wunderlich ausgeputzten Mann, der den Wilden spielte; er trug einen Hut mit Adlerfedern, um seine Schultern, trotz der Hitze ein Fell geschlungen und zeichnete sich durch seine langen Haare und seinen röthlichen Bart aus, so daß man ihn für den Häuptling irgend eines Indianer-Stammes halten konnte. Unter der wilden Maske steckte jedoch ein zahmer Schweizer, der auf diese neue Weise Reclame für seine Gemshörner und Edelweißvorräthe machte. – Die Gießbachfälle stürzen in sieben Absätzen aus einer Höhe von neunhundert Fuß über die waldbewachsenen Felsen in die Tiefe. Abends werden die Cascaden mit bengalischen Flammen beleuchtet und gewähren dann in der That ein magisches Schauspiel, das einem Märchen aus „Tausend und einer Nacht“, dem gaukelnden Spiel der Wassergeister, einem nächtlichen Zauberfeste Oberon’s und Titania’s gleicht. Wenn auch die strenge Aesthetik diese Ueberschönerung der schönen Natur, dieses Raffinement eines blasirten Geschmacks verwerfen muß, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die Wirkung eine feenhafte ist.

Ein Ausrufer in Interlaken.

Am nächsten Tage wanderten wir nach Interlaken, wo wir mehrere Tage zu verweilen gedachten, um von hier aus Partien in die Berner Alpen zu unternehmen. Die günstige Lage des Ortes zwischen dem Brienzer und Thuner See, die prächtigen, mit allem Comfort und Luxus ausgestatteten Hôtels und Pensionen, machen Interlaken zum Mittelpunkt des Fremdenverkehrs und dadurch für Viele geräuschvoll, unruhig und ungemüthlich, weshalb es sich weniger für den Naturfreund als für Touristen und die sogenannte feine Welt eignet, welche auch in den Bergen nicht die zweideutigen Genüsse der großen Stadt entbehren will. Wenn man auf dem staubigen „Höhenweg“ promenirt, so glaubt man in Berlin, Paris oder in Baden-Baden zu sein. Nur hier und da hat sich noch ein Stück der früheren primitiven Einfachheit erhalten, unter Andern der komische Ausrufer, der im schwerverständlichen Berner Dialect die obrigkeitlichen Verordnungen, verlorene und gefundene Sachen mit lauter Stimme öffentlich verkündigt und dazu die Trommel rührt.

Um so reizender ist die nächste Umgebung von Interlaken, wo jeder Schritt ein neues, überraschendes Landschaftsbild bietet, dessen Mittelpunkt die erhabene Jungfrau mit ihrem Gletscherdiadem bildet. Zu den lohnendsten Spaziergängen, die in wenigen Minuten zu erreichen sind, zählt vor Allen der kleine Rugen, zu dessen Füßen das bekannte großartige Hôtel „Jungfraublick“ liegt, ferner die nicht minder beliebte „Heimwehfluh“. Von beiden Punkten sieht man die strahlende Jungfrau, das weiße Silberhorn, den finstern Mönch und den gewaltigen Eiger in wechselnder Beleuchtung, während die blauen Seen und die grünen Wiesengelände sich zu unsern Füßen ausbreiten; eine seltene Vereinigung der höchsten Erhabenheit und lieblichster Anmuth.

Aber selbst die herrlichsten Punkte in der Nähe von Interlaken werden von einem Ausflug nach Grindelwald und Lauterbrunnen übertroffen, wohin wir im leichten Einspänner rollten, vorüber an freundlichen Häusern und friedlichen Dörfern, durch das romantische Thal der Lütschinen, bewacht von himmelhohen Felsen, durchrauscht von den schäumenden Wellen des Baches, der uns mit seinem wilden Berglied begrüßte, und über uns der blaue, wolkenreine Himmel, die goldene Sonne, so daß man bei jedem Schritt laut aufjauchzen möchte. Nach und nach wird der Weg steiler, so daß wir ausstiegen, um dem Pferd die bei der drückenden Hitze doppelt schwere Last zu erleichtern. Da die Sonne in dem von Bergen rings eingeschlossenen Thal sich vom 28. October bis zum 8. März nicht blicken läßt, so darf man sich nicht wundern, daß hier keine Feldfrüchte mehr gedeihen und große Armuth herrscht. Obgleich die Noth wirklich bedeutend ist, so wird dieselbe von den Bewohnern noch künstlich übertrieben und zu einer Bettelei benutzt, die den Genuß an der wunderbar schönen Gegend wesentlich stört. Dafür entschädigt allerdings das großartige Schauspiel der Natur. Von allen Seiten steigen die weißen, schimmernden Gletscher hernieder, welche dicht an die grünen Matten grenzen und mit diesen zu verschmelzen scheinen, als wollte der bleiche Tod sich mit dem blühenden Leben versöhnen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_574.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)