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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 36.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


7.


Gotthold raffte seine Sachen zusammen; dann fiel ihm ein, daß er den Malkasten nur gleich hier lassen könne. So lehnte er denselben an den Fels, auf dem die Schlange gelegen, in den dichten Schatten und schritt den Hügel hinab auf den Waldweg in die lange Schlucht, durch welche der Bach zum Meere murmelte und an dessen Ausfluß in der kleinen Bucht zwischen den steilen Uferklippen Vetter Boslaf’s einsames Häuschen lag. Das Strandhaus hatten sie es damals in Dollan genannt, und nicht blos dort; es war unter diesem Namen in Aller Munde, der Schiffer zumeist, denen es ein willkommenes Wahrzeichen an der gefährlichen Küste war, bei Tage und noch mehr bei Nacht, wenn das Licht aus Vetter Boslaf’s Fenster, zu Vorsicht mahnend, über die Wasserwüste durch die gähnende Nacht zu den Rathlosen herüberschimmerte. Der Schein reichte sehr weit, Dank der gewaltigen, tiefgewölbten zinnernen Schüssel, welche der Alte hinter dem Lichte befestigt hatte, und deren fleckenloser Glanz mit dem des polirten Silbers wetteiferte. An die siebenzig Jahre war es nun bereits, daß diese Leuchte brannte zum Frommen der Schiffer und Fischer und zur Ehre des guten Mannes, der sie Nacht für Nacht entzündete auf Niemandes Geheiß, nur dem Triebe des eigenen braven Herzens folgend.

An die siebenzig Jahre, und eher darüber als darunter; es hatte sie Keiner gezählt. Seit die ältesten der jetzt lebenden Menschen denken konnten, hatte Vetter Boslaf in dem Strandhause gelebt – was Wunder, daß er den jüngeren und jungen eine halb mythische Person war? Erschien er doch fast selbst seinen Verwandten in Dollan so, unter welchen er lebte, in deren Gesellschaft er wenigstens so manche Stunde verbrachte, an deren Leiden und Freuden er in seiner stillen Weise Antheil nahm, und von denen wenigstens Curt’s Vater seine Geschichte gekannt und sie einmal erzählt hatte; Gotthold erinnerte sich nicht mehr, bei welcher Veranlassung und ob er sie den Knaben oder – was wohl wahrscheinlicher – einigen Freunden bei der Flasche mitgetheilt und die Knaben nur verstohlen aus der Ecke zugehört.

Gotthold hatte lange an diese Geschichte nicht gedacht, die zu einer Zeit sich ereignete, als manche Buche hier, die jetzt die stattliche Krone hoch über dem Haupte des Wanderers wölbte, noch nicht existirte. Aber jetzt kam sie ihm wieder in die Erinnerung bis in die Einzelheiten, von denen er wirklich nicht mehr wußte, ob er sie damals schon gehört, ob er sie sich später dazu gedichtet, oder ob er sie jetzt erst aus dem Rauschen der grauen Waldriesen erfuhr und aus dem Murmeln des Quells, der seinen Wanderpfad begleitete.

„Zur Schwedenzeit,“ so fingen damals alle alten Geschichten an, lebten auf der Insel zwei Vettern Wenhof, Adolf und Bogislaf, Beide gleich jung, gleich schön und stark und gleich verliebt in ein liebenswürdiges junges Fräulein, welches der Vater Niemand geben wollte, als Einem, der reich war, aus dem einfachen Grunde, weil er außer seinem alten Adel nichts besaß, als das große Rittergut Dahlitz, auf dem mehr Schulden lasteten, als es selbst unter Brüdern werth gewesen wäre. Nun waren die beiden Vettern allerdings nicht von Adel, aber aus einer sehr guten alten Familie, und der Herr von Dahlitz hätte durchaus gegen Keinen von ihnen etwas einzuwenden gehabt, außer was er gegen Beide einwenden mußte und leider einwenden konnte, nämlich, daß sie womöglich noch ärmer waren als er selbst. In der That besaßen sie nichts, als Jeder eine gute Büchsflinte mit dazu gehörigen Jagdgeräthen, und weiter ein Paar gute Jagdstiefel, deren dicke Sohlen sie bald hier, bald da über die Schwelle der Häuser ihrer vielen Freunde auf der Insel setzten, als überall hochwillkommene Jagd-, Spiel- und Tafelgenossen. Denn wie sie von gleich hohem Wuchse und fast gleicher Gesichtsbildung waren, so thaten sie es sich auch in allen diesen Dingen gleich, oder doch so gleich, daß die gastfreundlichen, fröhlichen Gutsbesitzer den Einen nicht minder gern als den andern auf den Hof kommen sahen und am liebsten Beide zugleich, was denn auch in der That fast immer der Fall war. – Die beiden Vettern liebten sich nämlich viel inniger als die meisten Brüder sich lieben, und was ihre Leidenschaft zu der schönen Ulrike von Dahlitz betraf, so waren ihre Aussichten so gering, daß es sich gar nicht der Mühe verlohnte, sich deshalb zu veruneinigen.

Da geschah etwas, was ihre Lage, oder wenigstens die Lage des Einen von ihnen, mit einem Schlage von Grund aus veränderte.

In Schweden starb ein sehr reicher und sehr wunderlicher Onkel, welcher außer seinen schwedischen Gütern auch eines auf der Insel zu vermachen hatte, nämlich das schöne Dollan, zu dem damals noch die Wälder rings in der Runde bis an das Meer, und auf der andern Seite das Land über die große Haide weg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_579.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)