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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Directors des Kreis- und Hofgerichts bekleidet. Drei liebliche Töchterchen wachsen neben der Mutter heran, wiederum unverkennbar ausgestattet mit werthvollen Erbschätzen mütterlicher und großmütterlicher Anlagen, welche sie in schwesterlicher Theilung zu pflegen und als unveräußerliches Familiengut mit Zinsen weiter zu vererben versprechen. Es ist ein bewegtes geselliges Dasein, welches Frau v. Hillern in der kleinen, aber im raschen Aufblühen begriffenen Stadt führt. Lebenslustig, voll warmen Interesses für alle die wechselvollen Strömungen auf der Oberfläche und in der Tiefe der menschlichen Gesellschaft, Allen mit Leichtigkeit sich accommodirend, ist sie in allen Kreisen heimisch, eines der besten anregendsten Elemente derselben. Sie genießt daher eine wohlverdiente allgemeine Beliebtheit, bei Denen aber, welche ihr ganzes Wesen ergründet haben und „Alles in Allem zu nehmen“ verstehen, eine wahre Verehrung. Ihre guten Freunde erfreut sie noch oft und gern mit köstlichen Lebenszeichen ihres in Ruhestand versetzten dramatischen Talents durch meisterhafte Declamation von Gedichten, unter denen sie besonders die effectvollen, fein nuancirten Erzeugnisse ihres Freundes Scherenberg bevorzugt, oder durch Reproduction von Bruchstücken aus ihren Lieblingsrollen, oder auch durch wirkliche Action auf der Dilettantenbühne, welche sie nicht allein durch die eigene vollendete Leistung, sondern auch durch die sorgsame Einexercirung ihrer Trabanten weit über das gewöhnliche Niveau zu erheben weiß. Wer sie so sieht und hört, der empfindet ihr noch die Illusion nach, die ihre Seele in die verlassenen Sphären zurückversetzt, ihr das Podium unter die Füße, Rampe und Coulissen vor die Augen zaubert und das Schwert der Jungfrau in die Hand drückt, bis unter dem Beifall der Hörer das Märchen aus alten Zeiten erblaßt, der geträumte Musentempel wieder zum nüchternen Salon zusammenschrumpft.

Wilhelmine von Hillern.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Daß diese schwachen Nachklänge der einst mit so glühendem Enthusiasmus betriebenen Thätigkeit die echte Künstlerseele nicht ausfüllen konnten, daß der Geist, der einst so ungestüm den Drang nach künstlicher Gestaltung befriedigt hatte, nach einem neuen Gebiete verwandten Schaffens verlangte, begreift sich leicht. So erfüllte Frau v. Hillern naturgemäß eine frühere Weissagung Dingelstedt’s, daß sie später zum Kiel greifen würde, und feierte ihre künstlerische Auferstehung als Dichterin. Mit derselben Sicherheit natürlicher Bestimmung, wohlgerüstet mit derselben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_591.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)