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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

9.


Gotthold arbeitete oben bereits seit einer halben Stunde mit dem Eifer des Landschafters, der seinen Gegenstand mit Wärme erfaßt hat und die Stunde ausbeuten muß, die so nicht wiederkommt. Prangten Himmel und Erde und Meer morgen, wenn die Sonne sich neigte, wieder in denselben tiefen Lichtern, fielen die Schatten von den Hügeln so kräftig in das Thal, in die Schluchten – er würde nicht wieder auf demselben Platze stehen, das Vergessene nachzuholen, das Angefangene zu vollenden.

So saß er denn auf einem der niedrigeren Steine des Hünengrabes, das Malbrett auf den Knieen, mit glühendem Künstlerauge die Schönheit des Ortes und der Stunde trinkend, mit emsiger Künstlerhand ein Abbild dieser Schönheit schaffend. Und die Farben auf der Palette mischten sich wie von selbst, und jeder Pinselstrich auf der kleinen Leinwand brachte das Abbild dem Urbild näher mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, über die der Künstler selbst freudig erstaunt war. So hatte ihm nie eine Arbeit gefördert, so waren sich nie Absicht und Vollbringen liebend begegnet, so hatte ihn nie das Hochgefühl des Könnens beglückt.

„Und sollte denn doch der Traum, daß ich nur hier werden kann, was ich zu werden bestimmt bin, mehr als Traum gewesen sein?“ sprach er bei sich, „und soll sich auch an mir die tiefsinnige Weisheit der Antäusmythe bewähren? Aber freilich, wir sind ja Alle Erdensöhne; es ist nicht Schuld der Mutter, wenn wir uns von ihr loslösen, um nach fernen Sonnen zu streben, in deren unheimlicher Gluth uns dann gar schnell die wächsernen Flügel schmelzen. Ich war da unten ein solcher Ikarus.“

„Ja, ja,“ rief er laut, „Rom, Neapel, Syrakus, ihr Malerparadiese, was ist dies dürftige Stück Erde im Vergleich zu euch! und doch, mir ist es mehr, so viel mehr, es ist meine Heimath!“

„In der Dich ein alter Freund herzlich willkommen heißt,“ sagte eine helle Stimme hinter ihm.

Gotthold wandte sich erschrocken.

„Karl Brandow!“

Er stand da, die schlanke elastische Gestalt an den Block gelehnt, auf welchem heute Morgen die Schlange gelegen; und die runden harten Augen, deren stechender Blick fest auf ihn gerichtet war, erinnerte Gotthold an die starren Schlangenaugen.

„Freilich bin ich’s,“ sagte Karl Brandow, indem er näher trat mit einem Lächeln, das freundlich sein sollte und so kalt war wie die Hand, die er Gotthold jetzt entgegenstreckte und in die Jener zögernd die seine legte.

„Wie hast Du mich hier gefunden?“ fragte Gotthold.

„Ich bin ein alter Jäger,“ erwiderte Brandow und zeigte seine weißen Zähne. „So leicht entgeht mir nichts, noch dazu auf meinem eigenen Revier. Aber ich will nicht prahlen. Die Sache war in der That einfach genug. Einmal wußte ich schon seit ein paar Wochen, daß Du kommen würdest; sodann hörte ich heute Mittag bei Plüggen auf Plüggenhof – Otto Plüggen, der Stroh-Plüggen, weißt Du, zum Unterschied von seinem jüngeren Bruder Gustav, dem Heu-Plüggen, der Gransewitz bekommen – ich sage: von unserem neuen Pastor hörte ich, daß Du gestern Abend in Rammin gewesen und nach Prora gefahren seiest. Natürlich schickte Plüggen auf meine Bitte sofort seinen Wagen, um Dich nach Plüggenhof einzuladen; Du warst nicht mehr da, heute Morgen schon zu Fuß mit Jochen Prebrow nach Dollan aufgebrochen. Nun, es versteht sich wohl von selbst, daß es mich jetzt keine Minute länger in Plüggenhof litt, trotzdem wir uns eben erst zu Tisch gesetzt hatten, um Dich mit vollen Gläsern empfangen zu können. Ich habe meine beiden Blässen halb zu Schanden gefahren und meine arme Frau halb todt geängstigt, um Dir wenigstens unterwegs zu begegnen, im Falle Du grausam genug gewesen wärest, unsere Rückkehr nicht abwarten zu wollen. Wir kommen an; wir fragen nach Dir noch vom Wagen herab: es ist Niemand dagewesen! Meine Frau und ich sehen uns erschrocken an. ‚Da sitzt Einer oben auf dem Hünengrabe!‘ sagt Hinrich Scheel, mein Factotum, der jetzt an den Wagen tritt; ‚da habe ich ihn heute Mittag schon sitzen sehen.‘ – ‚Es ist nicht unmöglich,‘ sagt meine Frau; ‚er wird unterwegs erfahren haben, daß wir nicht zu Hause sind, und fleißig, wie er ist, die Zeit benutzen. Es war immer ein Lieblingsplatz von ihm.‘ – Ich sage gar nichts, sondern laufe mit dem Fernrohr auf die Giebelstube und sehe, was Hinrich trotz seiner Schielaugen ohne Fernrohr gesehen hatte; laufe wieder hinab, springe auf’s Pferd, und – da habe ich, den ich suchte. Es ist wunderschön, was Du da gemalt hast, wirklich ganz famos; aber nun die Geschichte zusammengepackt, wenn ich bitten darf! Morgen ist auch noch ein Tag und für heute ist es wahrlich genug und zu viel. Von Mittag bis jetzt, das hält auch nur ein Künstler aus. Wie wird sich meine Frau freuen!“

Karl Brandow hatte sich bereits Gotthold’s Reisetasche über die Schulter geworfen und griff jetzt nach dem Malkasten, in welchem dieser mittlerweile die Sachen geordnet.

„Einen Augenblick!“ sagte Gotthold.

„Du kannst mir Deine Schätze sicher anvertrauen.“

„Das ist es nicht.“

„Was denn?“

Gotthold zögerte; aber hier war keine Zeit für lange Ueberlegung.

„Dies ist es,“ sagte er. „Ich kann Deine Einladung, so freundlich dieselbe ausgesprochen ist und so ehrlich sie, ich will es glauben, gemeint ist, nicht annehmen.“

„Um Himmelswillen, weshalb nicht?“

„Weil ich damit ein Unrecht begehen würde gegen mich und in gewissem Sinne auch gegen Dich. Gegen mich: ich könnte nicht in Dollan, in Eurem Hause weilen, ohne bei jedem Schritt, in jedem Augenblick eine Beute der schmerzlichsten Erinnerungen zu sein; und wer ersparte sich nicht gern, wenn er es vermeiden kann, eine solche Prüfung! Gegen Dich: – es muß gesagt sein, Brandow! ich habe Dich stets für meinen Feind gehalten und meine Gesinnung gegen Dich ist keine freundliche gewesen bis zum heutigen Tage, bis zu dieser Stunde. Wer würde einen Mann in sein Haus laden, von dem er weiß, daß er ihm nicht freundlich gesinnt ist!“

„Ist es möglich?“ rief Brandow. „Der Strohkopf von Plüggen und der Pfaff’ sollten wirklich Recht gehabt haben, als sie sagten: ‚er kommt nicht!‘ ‚Er kommt,‘ sagte ich, ‚und wäre es auch nur, Euch zu beweisen, daß er der großmüthige Mensch geblieben ist, der er immer war!‘ Nein, Gotthold, so darfst Du mich nicht Lügen strafen, schon um der albernen Gesellen und ihres Gleichen nicht, die dann wieder eine prächtige Gelegenheit hätten, sich über den Karl Brandow lustig zu machen, der immer hoch hinaus will und dann mit einer langen Nase abziehen muß. Nun, es ist ja leider was daran: ich bin nicht mehr, der ich war, bin ein armer Teufel, habe lernen müssen bescheiden zu sein; aber diesmal will ich es nicht sein, diesmal nicht. Und nun, Deine Hand, alter Feind! so! eingeschlagen! ich kannte Dich doch besser, als Du Dich selbst.“

Sie begannen den Hügel hinabzugehen, Brandow, der es sich nicht nehmen ließ, Gotthold’s Sachen zu tragen, noch immer in seiner hastigen, sich manchmal überstürzenden Weise eifrig sprechend, Gotthold still und vergebens bemüht, die Betäubung abzuschütteln, die ihm das Hirn umnebelte und das Herz beklemmte; er hatte wahr, ganz wahr sein wollen; er war es nicht gewesen: er hatte das Letzte nicht gesagt, weil er es nicht sagen konnte, weil er als ein Thor, ein Geck erscheinen mußte, wenn er es sagte, und als ein roher Mensch, wenn er es nicht sagte, sondern einfach: ich will nicht. Aber war das nicht noch immer besser, als sie wiedersehen?

Gotthold stand still; er riß sich Rock und Weste auf; ihm war, als ob er ersticken müßte.

„Es ist verzweifelt schwül hier im Walde,“ sagte Karl Brandow. „Wir hätten es ja viel näher, wenn wir die andere Seite hinab und dann durchs Feld gegangen wären; aber wir müssen meines Fuchses wegen schon den Umweg machen. Da steht der Racker und schlägt sich vor Ungeduld die Hufeisen ab. So, nun wird er en avant!

Brandow hatte die Zügel über den Arm genommen, Gotthold einen Theil seiner Sachen ergriffen; so schritten sie schnell durch den Wald auf einem Querpfade, der sie bald hinaus auf das Feld brachte. In geringer Entfernung, nur noch durch ein paar Wiesen und durch eine mächtige Roggenbreite von ihnen getrennt, lag der Gutshof, zum Theil bereits im Schatten, den die Haidehügel zur Linken weit in das Thal hineinwarfen, während die Wipfel der höheren Bäume des Gartens und die Kuppen der mächtigen Pappeln, die den Hof auf den drei anderen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_598.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)