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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Ich vertraue Ihnen vollkommen.“

Gotthold’s Lippen zuckten. Sie hatten sich vom ersten Augenblick bis zum letzten „Du“ genannt; er hatte sie nicht anders genannt im Wachen und im Traume während dieser zehn Jahre!

Der Verband war angelegt, zu Gotthold’s Zufriedenheit. Gretchen, vom Weinen müde und jetzt ganz ohne Schmerzen, hatte das Köpfchen auf die Seite geneigt und schien einschlafen zu wollen. Gotthold ging aus dem Gemach zurück in das Wohnzimmer. Und während er hier in dem dämmerigen Raume nach dem Hute tappte, bemächtigte sich seiner die wunderlichste Empfindung.

Er hatte nicht eigentlich vergessen, daß er Brandow aufsuchen und ihm von dem Zustande des Kindes Nachricht bringen wollte; aber es war ihm, als ob er damit etwas ganz Unnöthiges, ja Unschickliches vorhabe; als gehe das Kind Karl Brandow so wenig an, wie ihn selbst Karl Brandow’s Pferd; als habe über das Kind nur er und Cäcilie zu entscheiden, und als sei dies Alles nicht seit einer Viertelstunde, sondern immer so gewesen und könne auch niemals anders sein.

Er war, in dieser seltsamen Verwirrung befangen, regungslos stehen geblieben und kam erst wieder zu sich, als Cäcilie jetzt schnell und leise hereintrat und, ihm beide Hände entgegenstreckend, schnell und leise sagte:

„Ich danke Dir, Gotthold! und – ich habe es wohl bemerkt, daß es Dich gekränkt hat; das Mädchen sah uns so verwundert an, sie erzählt Alles wieder, und es muß ja auch sein, aber einmal – zum letzten Mal wollte ich noch in der alten Weise zu Dir sprechen, da Du nun einmal hier bist.“

„Das klingt, Cäcilie, als hättest Du nicht gewünscht, daß ich käme?“

Sie hatte ihm nun doch die Hände, die er bis jetzt festgehalten, entzogen und sich am Fenster in den Stuhl geworfen, den Kopf in die Hand gestützt. Er trat zu ihr.

„Cäcilie, Du hast nicht gewünscht, daß ich käme?“

„Doch, doch!“ murmelte sie, „ich habe sehr, sehr gewünscht, Dich wiederzusehen – seit Jahren – immer; aber Du hättest nicht kommen sollen, nein, nicht kommen sollen!“

„So gehe ich wieder, Cäcilie!“

„Nein, nein!“ rief sie, schnell den Kopf emporrichtend, „so meine ich es nicht. Du bist ja da – es ist ja geschehen. Und nun kannst Du bleiben – nun mußt Du bleiben, bis –“

Sie schwieg plötzlich; Gotthold, der ihrem Blick durch das offne Fenster folgte, sah im Hintergrund des Hofes Karl Brandow, der mit Hinrich Scheel sprach und jetzt eilig auf das Haus zukam.

„Er ist schon zurück,“ murmelte sie, „was willst Du ihm sagen?“

„Ich verstehe Dich nicht, Cäcilie!“

„Er haßt Dich!“

„Dann weiß ich nicht, weshalb er mich aufgesucht und mich so dringend in sein Haus geladen hat, das ich wahrlich nie zu betreten die Absicht hatte.“

„Er Dich aufgesucht – Dich eingeladen – das ist unmöglich!“

„Dann hätte er mich – dann hätte er uns – aber das ist nicht minder unmöglich.“

Sie sah ihn mit starren Augen an.

„Unmöglich!“ sagte sie, „unmöglich!“

Ein wirres, unheimliches Lächeln flog über ihr bleiches Gesicht.

„Dann kann es ja bleiben, wie es war,“ sagte sie, „dann ist es ja nur in der Ordnung.“

„Holla!“ rief Brandow, der die Beiden am Fenster gesehen hatte, und er beschleunigte noch seine raschen Schritte, indem er eifrig mit der Hand winkte.

Er trat alsbald ins Zimmer, noch in der Thür rufend: „Nun, da hast Du sie ja schon gefunden. Das heißt eine Ueberraschung, wie? was bekomme ich dafür? Ja, schlau muß man sein! kein Wort zu der Frau gesagt, die denn doch nur alle möglichen gutgemeinten Einwendungen macht, von alter Feindschaft und anderen längst vergessenen Kindereien; und dem Freunde gesagt: sie steht auf Kohlen, bis ich Dich bringe. So fängt man seine Vögel!“

Und er lachte laut.

„Du wirst Gretchen aufwecken,“ sagte Cäcilie.

„Ja, was ist es denn mit ihr?“ fragte Brandow, seine Stimme senkend. „Hoffentlich nichts, wie mit dem Brownlock, blinder Lärm, oder – wo willst Du hin, Cäcilie?“

Sie war aufgestanden und in die Schlafstube gegangen, deren Thür sie hinter sich zuzog. Gotthold theilte Karl mit, wie er das Kind gefunden und was er für den Augenblick gethan habe.

„Aber da wollen wir doch gleich nach dem Doctor schicken,“ sagte Brandow.

„Ich halte es nicht für unbedingt nöthig,“ erwiderte Gotthold, „aber wenn Du im mindesten ängstlich bist –“

„Ich ängstlich? Gott soll mich bewahren! es wäre das erste Mal in meinem Leben. Ich überlasse das ganz meiner Frau, die, wenn es sich um das Kind handelt – ach, da bist Du ja! Gotthold sagt, wir brauchen nicht zu Lauterbach zu schicken, und es würde auch schwerlich etwas helfen, er ist des Sonntags nie zu finden. Ueberdies muß ich morgen früh hineinfahren, da kann ich ihn denn gleich mitbringen. Meint Ihr nicht?“

„Willst Du Dir Gretchen noch einmal ansehen?“ sagte Cäcilie.

Sie hatte es, ohne ihren Gatten anzublicken, zu Gotthold gesagt, der ihr folgte und die Thür hinter sich aufließ, in der Erwartung, daß Brandow mit ihnen gehen würde; aber Brandow war auf halbem Wege stehen geblieben. Die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt, blickte er durch die offne Thür auf die Beiden, die sich jetzt zu gleicher Zeit von beiden Seiten über das freistehende Bettchen des Kindes beugten, so daß ihre Gesichter in dem Halbdunkel sich zu berühren schienen. Flüsterten sie nicht etwas? ‚er hat uns belogen,‘ oder dergleichen? Nein, es war die Rike, die etwas gesagt hatte. „Die Dirne soll mir gut aufpassen. Vorläufig ist Alles besser abgelaufen, als ich denken konnte.“

Und er ging langsam in das Schlafgemach; auf der Schwelle, die er lange nicht überschritten, unwillkürlich einen Moment zögernd und dann zusammenzuckend vor einem bläulichen Licht, das plötzlich den fast dunklen Raum erfüllte. Aber es war nichts – nur der erste Blitz eines Gewitters, das der heiße Tag heraufbeschworen. Ein ferner Donner grollte hinterdrein, die Bäume im Garten schüttelten sich und einzelne schwere Tropfen tickten an die Fensterscheiben.

Das schwere Gewitter hatte längst ausgerast und die Nacht war schon weit vorgerückt, als Gotthold, leise auftretend und das Licht sorgsam mit der Hand schützend, über den weiten bodenartigen und mit allerlei Sachen angefüllten oberen Raum des einstöckigen Hauses nach der Giebelstube schritt, die ihm zum Schlafraum bestimmt war. Brandow, mit dem er unten in dem Zimmer rechts vom Flure, das von jeher das des Hausherrn gewesen, so lange bei der Flasche gesessen, hatte ihn begleiten wollen; aber er hatte es abgelehnt: er werde den Weg noch von altersher zu finden wissen, und vier Männerstiefel machten mehr Geräusch als zwei, und oben, erinnere er sich, hallten die Tritte in der Nacht unheimlich laut. „Na, dann geh’ allein, Du für alle Welt Besorgter,“ hatte Brandow lachend gesagt, „und hörst Du, verschlafe mir den Gedanken, morgen wieder abzureisen; daraus wird ein für alle Mal nichts. Dem Jochen Prebrow sage ich Bescheid, wenn ich morgen früh an der Schmiede vorüberkomme; der Kerl kann sich auch zu meinem Fritz auf den Bock setzen, und Deine Sachen bringe ich Dir aus dem Fürstenhof mit. Unter acht Tagen lasse ich Dich nicht wieder fort, und wenn es nach mir ginge, bliebest Du immer hier. Aber Du wirst Dich wohl hüten; für einen Weltmann, wie Du, wäre ein solches Leben unerträglich. Nun, ich habe Dir heute schon mehr, als schicklich ist, vorgeklagt; aber einem Manne Deines Schlages gegenüber wird man zu schmerzlich daran erinnert, was vielleicht selbst aus unser Einem hätte werden können und was nun schließlich geworden ist. Gute Nacht, alter Kerl, laß Dir was Angenehmes träumen!“

Und da stand nun Gotthold in der alten trauten Giebelstube am offenen Fenster. Aber wie gierig er auch die Nachtluft einsog, die feucht und kühl durch die noch vom Gewitterregen tropfenden Bäume strich, es wollte ihm nicht leichter um’s Herz werden, das dumpf und schwer in der keuchenden Brust schlug,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_600.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)