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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

diesem ließ der Mann das Kind sanft und leise hinab, dann gab er ihm einen kleinen Schwung nach der Seite und warf es so weit als möglich von den anderen Todten fort, damit sein Kind wenigstens allein ein Plätzchen für sich bekomme. Nun noch ein Blick des Schmerzes, des Entsetzens, der Verzweiflung, noch ein Händegruß nach dem eignen Fleisch und Blut, und mit Eile wankte der Mann über die Stätte der Leere hinaus.

Auch mich trieb es hinaus, ein fürchterliches Grauen erfaßte mich, ich hörte und sah nichts mehr, mir ward unendlich wehe, in einen solchen Spalt der Schöpfung hinunterzusehen. Ich eilte an das Freie, Ekel hatte mich ganz gepackt, und ich schöpfte erst wieder Athem am Molo, als mein Auge auf diese ewig reine, klare, heilig große Natur fiel. – Der Mond war eben aufgangen, er stand über dem Vesuv, diesen in ernster, ruhiger Plastik aus der Landschaft hervorhebend. Magisch ergoß sich das Licht des Mondes über Berge, Meer und Stadt, den ganzen Golf mit einem breiten Lichtstrom wunderbar durchfluthend. Der schwarze Mastenwald erschien in einem weißen Silberdunst, der schlanke Leuchtthurm funkelte matter, tausend Barken glitten traumhaft wie schwarze Schatten über die Lichtfläche, tauchten auf und verschwanden, am Horizont stieg der schöne Fels von Capri aus der Nacht märchenhaft empor und wie phantasmagorische Schattenbilder glitzerten drüben Somma, der Vesuv und die silberhellen Berge von Castellamare und Sorrento. Dies Alles lag vor mir, klar, friedlich in zauberhafter Ruhe und führte auch mich allmählich wieder zu mir selbst zurück.

Noch lange blickte ich hinein in dieses Bild feenhafter Schönheit, aber noch oft wiederholte ich mir selbst die Worte: Nein, das Volk ist nicht wie sie, nicht wie die Natur, die es umgiebt; würde es sonst im Anblicke dieses Meeres, dieser Berge, dieses Himmels so gefühllos und so herzlos gegen seine todten Brüder verfahren können? –




Ein Orangenzweig.


Von A. Godin.


(Fortsetzung.)


In den Kronen des Laubwaldes flüsterte leise bewegender Windhauch, tiefe Ruhe, durch einzelne Vogelstimmen mehr begleitet als unterbrochen, webte sich über all das Grün, welches dichter und dichter den Pfad begrenzte. Einzelne Bäume berührten sich und schlangen die weitausgestreckten Zweige zur hohen Laube ineinander, als wollten sie den engen Waldpfad von Himmel und Erde abgrenzen; dennoch drängte sich von Zeit zu Zeit ein seltsam blendendes Leben durch die sanften Farbentöne der Buchen und Eichen. Goldene Punkte funkelten, glühten durch die Wipfel – auftauchend, wieder verschwindend, plötzlich vergrößert – bald eine Kugel, bald Pfeil oder Ring – als trieben schwebende Luftgeister ein seltsames Spiel mit unirdischen Kleinodien, leuchtender als Sterne, feuriger als Sonnenstrahlen. Und doch war es nur die Sonne, welche all dies blitzende Spielzeug schuf, während ihre Abendgluthen die Goldkuppeln der vom Walde verhüllten griechischen Capelle küßten.

Eugeniens Augen hingen mit eigenthümlichen Glanze an dem magischen Gefunkel. Nach minutenlangem Schweigen wandte sie sich mit tiefem Athemzuge ihrem Begleiter zu: „Ist es wahr, was wir heute gehört? Erwartet Ihr Armeecorps Marschordre?“

„Stündlich,“ antwortete Eckhardt, „Alles ist zum Aufbruch gerüstet und der Befehl zum Ausrücken wird höchstens noch Tage auf sich warten lassen – vielleicht hängt er an Stunden. Dies meine Entschuldigung dafür, daß ich Ihnen heute meine Gesellschaft aufgedrungen, Fräulein Wallmoden. Es ist sehr möglich, daß ich nicht zurückkehre – bitte, mich nicht mißzuverstehen,“ fuhr er mit kaltem Lächeln fort, als sie eine Bewegung machte, ihn zu unterbrechen, „ich wollte nur andeuten, daß die Garnisonen nach einem Feldzuge meistens zu wechseln pflegen, und möchte deshalb Ihre Erlaubniß erbitten, ein lange unterdrücktes Wort aussprechen zu dürfen.“

Eugenie sah ihn an. In den ernsten, fast strengen Zügen des jungen Mannes lag nichts, was eine unerwünschte Deutung seiner letzten Worte als möglich erscheinen ließ.

„Sprechen Sie frei!“ sagte sie, den Kopf leise neigend, mit sanfter Stimme.

Eine schwache Röthe huschte über Eckhardt’s Wange. „Wäre mir früher das Glück geworden, so freundlichen Ton von Ihnen zu hören, Fräulein Eugenie, so würde ich nicht in der immerhin peinlichen Lage sein, auf Vorfälle zurückzugreifen, deren Berührung Ihnen kaum erwünscht sein kann. Doch bin ich mir selbst schuldig, dieselben nicht für immer unerörtert zu lassen. Es wäre längst geschehen, wenn Ihre Haltung mir nicht jedes Recht entzogen hätte, mich Ihnen zu nähern.“

Eugenie erglühte bis unter die Haare. „Ich verstehe Sie nicht – was hätte ich Ihnen vorzuwerfen? von welcher Rechtfertigung sprechen Sie –?

Eckhardt blieb stehen und blickte ihr mit großem Ernst fest in die Augen. „Mich nicht verstehen zu wollen, wäre ein Mangel an Achtung, den ich nicht verdiene, mein Fräulein. Zu rechtfertigen giebt es für mich nichts; daß Sie mir aber viel vorzuwerfen haben, beweist mir seit langen Monden jeder Blick, jeder Ton. Vielleicht ist es Ihnen selbst nicht ganz bewußt, wie sehr, – vielleicht ist die Abneigung nur unwillkürlich, dann aber um so bezeichnender, welche Ihnen gebot, sich abzuwenden von dem – Denuncianten.“

Es war heraus. Beide erblaßten.

„Welch ein Wort!“ rief Eugenie erregt.

„Sollte es schärfer klingen, als Ihr Urtheil?“ fragte er finster. – „Ich wähnte früher einmal, von Ihnen mehr gekannt zu sein, als von der Masse – es war nicht also. Daß Sie unmittelbar nach jenem Vorfalle jede Berührung mit mir zu vermeiden wünschten, mußte ich begreiflich finden; auch darauf war ich gefaßt, daß der Unwille beleidigten Zartgefühls sich von der Botschaft auf den Boten miterstrecken würde. Doch vertraute ich fest darauf, daß eine Zeit kommen würde, wo Sie Dem, der im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit gehandelt, auch Gerechtigkeit widerfahren lassen würden! Ich täuschte mich – diese Zeit kam niemals. So oft ich in Ihren Bereich trat – und dies geschah bis zum heutigen Tage stets unfreiwillig –, hatte ich immer auf’s Neue ein Abwenden zu empfinden, das in seiner Dauer fast der – Geringschätzung gleich kam. Sie stehen zu hoch in Aller Urtheil, Fräulein Wallmoden, als daß ich wagen dürfte, Sie einer Unbilligkeit zu zeihen; darum bleibt mir nur die Annahme, daß Sie meine Motive unrichtig aufgefaßt. Was ich je gethan und gesprochen, geschah immer mit offenem Visir! Daß ich damals einen Mittelsmann mit der Eröffnung betraute, gebot mir das einfachste Zartgefühl. Ich war auf jede Erklärung gefaßt, zu jeder Genugthuung bereit. Sie wurde mir von dem Manne, der es gewagt, Sie zu beleidigen, nicht abgefordert, von Ihnen nicht einmal gestattet. Auf Ihre Beachtung, mein Fräulein, habe ich nie Anspruch erheben können – wohl aber will und muß ich es auf Ihre Achtung, und deshalb frage ich, ehe ich aus Ihrem Gesichtskreis scheide: womit verdiente ich, in dieser Weise von Ihnen behandelt zu werden?“

Eugenie athmete rasch; tief betroffen schien sie nach Worten zu suchen, die sich endlich mit seltsam vibrirendem Tone losrangen: „Sie haben mich mißverstanden, ganz, völlig mißverstanden! Wie hätte ich je daran denken können, Ihnen etwas an den Tag zu legen, das der Geringschätzung gliche – Ihnen, dem ich – – dem ich Dank schulde! Und doch – doch darf ich Ihnen nicht widersprechen, denn es ist wahr, ich scheute jede Berührung mit Ihnen, floh Sie sogar! Aber nicht, um Sie zu kränken, Sie gar strafen zu wollen, nein, Eckhardt, nein! Es war nur – – ich kann diese Erinnerung nicht ertragen!“

„Sie haben ihn also nicht vergessen?“ loderte es gleich einer Flamme aus Eckhardt’s Brust hervor.

Es war einer jener sturmwindartigen Momente, wo jede Beherrschung aufhört. Eugenie wußte plötzlich, was sie bisher nur zuweilen geahnt, daß hier ein zermalmtes Herz zu ihren Füßen zitterte! Sie stand wie eingewurzelt, die Spitze ihres Sonnenschirms

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_608.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)