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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Allgegenwart das Land durchklang. Schon waren in Bieberich ganze Schiffe voll Verwundeter angekommen, schon wußte man in Wiesbaden, wie hart das achtzigste Regiment gelitten, sah man tiefgebeugte Gestalten im schwarzen Ehrenkleide einherwanken. Aus dem einen Hause hastete man angstvoll in die Ferne, um den theuren Verwundeten heimzuholen, oder doch wenigstens Trost und Pflege zu bringen; in dem andern harrte man mit erstarrender Furcht von Stunde zu Stunde vergebens auf ein noch immer ausbleibendes Lebenszeichen. Die Namen der verwundeten, gefallenen Officiere wurden rasch bekannt, die der Soldaten, der Freiwilligen ließen lange auf sich warten, und in den höchsten, wie in den ärmsten Ständen zitterten brechende Herzen in verzweiflungsvoller Ungewißheit um ihr Theuerstes.

Täglich brachten die Bahnzüge Verwundete und Gefangene; die Lazarethe füllten sich und ihre Räume fingen an nicht mehr zu genügen. Unter der Leitung des Regierungsraths Gotter ließ die Behörde die ausgedehnten Räumlichkeiten eines leerstehenden Privathauses zu einem von Frauen aller Stände geleiteten und bedienten Hospitale einrichten. Mit heiligem Eifer setzte Jede, die sich dem freiwilligen Liebesdienst gewidmet, die ganze Summe ihrer Kraft ein. Mochte es nun gelten, mit klugem Hausfrauenblick die Thätigkeit in der zur Speiseanstalt erweiterten Küche zu leiten, oder im Verbandzimmer schaffend und ordnend zu wirken, mochte es gelten, mit Aufgebot aller geistigen Kraft in den von hundert Bildern des Jammers angefüllten Sälen von Lager zu Lager zu wandeln – überall war und blieb es doch das gleiche, unermüdliche Selbstvergessen, die gleiche Opferwilligkeit! Mit jener Energie, die hoher Wille verleiht, stählten sich die reizbarsten Nerven gegen den steten Anblick herzzerreißenden Wehs, und viele bis dahin nur an Ruhe und Behagen gewöhnte Frauen ermüdeten nimmer, mit leichter Hand Wunden zu verbinden, mit frommem Trosteswort das brechende, sehnsuchtsvoll die ferne Heimath suchende Auge aufzuhellen.

Auch Eugenie fand und übte diese Kraft. In den hohen, luftigen Räumen der Villa standen zwanzig Lagerstätten vertheilt, auf denen mehr oder weniger schwer verwundete Soldaten der endlichen Genesung entgegenharrten. War unter ihnen auch kein Amputirter, kein ganz Hoffnungsloser, so veranlaßte doch die vorzügliche Einrichtung, welche dort zur Pflege getroffen war, den leitenden Arzt, diesem Asyl namentlich solche Verwundete zuzuweisen, deren Zustand besondere Sorgfalt erheischte. Eine Diaconissin, von zwei Dienerinnen des Hauses unterstützt, übte die eigentliche Krankenpflege, der sich Eugenie, von ihr unterwiesen, nur in einzelnen Fällen persönlich widmete, denn die Zeit der jungen Hausfrau war durch Leitung des Ganzen vielfach in Anspruch genommen. Doch gab es bestimmte Stunden, von deren Einhalten Eugenie sich durch Nichts abhalten ließ; stets war sie bei Vertheilung der sorgsam zubereiteten Mahlzeiten, stets zur Stunde der ärztlichen Besuche anwesend, trug überhaupt den ganzen Reichthum ihres eigensten Wesens auf die Sorge für Wohlergehen und Tröstung ihrer Kranken über.

So oft die anmuthige Gestalt bei ihren Pflegebefohlenen eintrat, wandten sich ihr alle Augen aufleuchtend zu, denn für Jeden brachte sie das wohlthuende Wort, den erquickenden, freundlichen Blick und meist für Einen unter ihnen eine besondere Gabe, deren Empfang mit um so neidloserer Freude von den Andern miterlebt wurde, als morgen die Reihe froher Ueberraschung an einen Zweiten kam. War es nun ein Brief aus der Heimath, den sie frohlockend an’s Lager des Sehnsuchtsvollen trug, war es eine Nummer der Gartenlaube, eine frische Rose, eine saftige Frucht, deren Genuß der Arzt ausnahmsweise gestattet – das Kleinste wurde gereicht und empfangen mit dem reinen Gefühl doppelter Freude. Heute brachte sie dem blutjungen Füsilier ein buntes Shawlchen, das er voll Stolz um den Hals schlang, da es ihm als selbstgestrickt bezeichnet wurde, morgen dem bärtigen Landwehrmann ein Kistchen mit Spielzeug, an dessen Theilen die vorher abgefragten Namen seiner kleinen Kinder befestigt waren, um es nun eigenhändig mit der Adresse zu versehen. Jetzt erklärte sie mit heiterem Lächeln ein humoristisches Kriegsbild, dann saß sie am kleinen Tische neben dem Bett, die Feder in der Hand, und ließ sich mit sanftem Aufblick den Brief in das heimathliche Dorf dictiren. Wenn die weiße Mädchenhand leise, wie kühlender Windhauch über die fieberheiße Stirn strich, wurde der Stöhnende ruhiger und die von derselben Hand gereichte Limonade erfrischte mehr als vorher. Hier ein Kissen höher rückend, dort ein mitleidig tröstendes Wort spendend, überall empfangen wie ein auf’s dunkle Lager fallender Sonnenstrahl, glitt das holde Bild der Barmherzigkeit von Bett zu Bett, das Herz erschüttert, vom tiefsten Ernste durchhaucht, und doch von einem Gefühl der Erhebung getragen, welches Kraft zum Miterleben der schweren Leiden verlieh.

Zum ersten Mal empfing das in abgeschlossenem Kreise aufgewachsene Mädchen einen Begriff von dem natürlichen Adel der Nation, welcher sie angehörte. Fast mit Ehrfurcht staunte sie die geistige Kraft, den moralischen Muth an, womit von einfachen Männern des Volkes die quälendsten Schmerzen erlitten, die härtesten Geduldsproben ertragen wurden. Das angeborene, dem eigenen reinen, kraftvollen Sinne entsprossene Schicklichkeitsgefühl, die warme, für den kleinsten Beistand geäußerte Dankbarkeit, die tiefe Liebe zu Heimath, Weib und Kind, welche sich in hundert rührenden Zügen äußerte, ergriff ihr Herz täglich von Neuem und flößte ihr höheren Stolz ein, eine Deutsche zu sein und zu heißen, als alle Triumphe der Schlachten.

Das Tagewerk war beendet. Der Arzt hatte seinen Abendbesuch gemacht, die Kranken waren frisch verbunden, die letzte Mahlzeit vertheilt, und Eugenie zog sich zurück, nachdem sie den Wunsch einer guten Nacht von dankbaren Stimmen empfangen. Nun saß sie ruhend am Fenster des Balconzimmers, dessen Einrichtung unverändert geblieben war, und gab sich, ehe sie zur Stadtwohnung zurückging, jenem Träumen hin, das bei körperlicher Ermüdung und geistiger Regsamkeit so leicht die Sinne umfängt. Was unter der drängenden Thätigkeit der letzten Wochen in ihr verstummt war, trat mit plötzlichem Mahnen wieder heran – Vergangenheit! Vergangenheit! Gefährliche Erinnerungen zogen sie an, lockten zum Versinken, wie das Wasser mitunter locken kann, wenn man zu lange träumend in die Wellen blickt. Wie mit einem Zauberschlage erstand vor ihrem Auge und Ohr jene Abschiedsscene, die, ewig unvergessen, in diesen Räumen erlebt worden! Als deren erster Jahrestag wiederkehrte, brannte die Wunde noch so heiß, daß sie es kaum zu ertragen gemeint – vor Kurzem hatte sich der Tag zum zweiten Male erneut und, verdrängt von tausend Pflichten und Sorgen, nicht einmal ihr Gedächtniß berührt. Warum nun heute? Warum ewig wieder der Blick dieser Augen, der Klang dieser Stimme, die vielleicht jenes Tages längst vergessen, oder doch, wenn Erinnerung lebendig geblieben, der Abschiedsstunde in Groll gedachten?!

Heiße Gluth brannte auf Stirn und Wange, hastig, als wollte sie fliehen, erhob sie sich und griff nach Hut und Schirm. Ehe sie aber noch das Zimmer verlassen, öffnete sich die Thür und mit soldatischem Schritt trat eine Ordonnanz des Etappenbureaus ein, stellte sich kerzengerade vor ihr auf und überreichte ihr einige Briefe. Diese Erscheinung bot nichts Ungewöhnliches, da fast täglich ein oder der andere Feldpostbrief für ihre Pflegebefohlenen abgegeben wurde. Mit leisem Bedauern, daß ihr nicht vergönnt war, noch heute Freudenbringer zu sein, öffnete sie, nachdem die Ordonnanz gegangen, ihr Pult, um die Briefe bis zum nächsten Morgen zu verwahren. Während sie dieselben durch ihre Finger gleiten ließ, um zu sehen, welche Adressen sie trugen, fuhr sie plötzlich zusammen. Unter den unscheinbaren Couverts schimmerte eines hervor, das, von fester charaktervoller Männerhand beschrieben, ihren eigenen Namen trug. Die Schriftzüge waren ihr fremd; gleich den übrigen Schreiben war auch dieses mit der Bezeichnung: „Feldpostbrief“ und dem gleichen Stempel, ohne Ortsbezeichnung, versehen. Der Name des Absenders fehlte.

Zögernd wog Eugenie den Brief in der bebenden Hand; er schien mehr zu umschließen als nur ein beschriebenes Blatt. Endlich erbrach sie das mit einem einfachen Genfer Kreuze bezeichnete Siegel. Aus dem losen Bogen, welchen sie hervorzog, fiel ihr ein Orangenzweig entgegen, die Blätter frisch, wie eben gepflückt, die zarten Blüthen welk, aber vom süßesten Duft durchdrungen. Blaß wie diese Blüthen starrte Eugenie das Briefblättchen an; es trug nichts als ein Datum – das des unvergeßlichen Tages ihres Lebens!




Vor Sedan.


Schwül und sternenlos breitete sich die letzte Nacht des August über die weiten, von der Maas durchschnittenen Thalflächen aus. Zur Rechten und Linken des Flusses hatten sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_626.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)