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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

sprach und erzählte die Aeltere von Beiden mit so großer Lebhaftigkeit, daß Eifer in diesem Augenblicke ihr wohl ebenso sehr die Wangen röthete, als die herbstlich frische Luft. Mitten in ihrem Vortrage unterbrach sich die würdige Dame jedoch mit einem Male, um ihrer schweigsamen Begleiterin vorwurfsvoll zuzurufen: „Aber Eugenie, interessirt Sie denn das gar nicht?!“

Obgleich die stattliche Gestalt der Präsidentin, welche diese Worte ertönen ließ, noch immer die Hälfte des Pfades ausfüllte, finden wir doch heute ihre vollen Wangen etwas schmaler als dereinst. Kein Wunder! denn unter jenen Wiesbadener Damen, welche den Frauendienst des Krieges übten, wurde sie in erster Linie genannt. Freilich spielte dabei zuweilen ein Lächeln mit, und die in solchem Zusammenhange fast frivol klingende Behauptung Mancher, daß sie ihr Amt der Menschenliebe con amore betreibe, war nicht ohne harmlose Berechtigung. Das stete Bedürfniß der ebenso gutherzigen als lebensfrohen Frau, auf Andere zu wirken und sich in ihrer Umgebung zu sonnen, ließ sie die ihr übertragene Leitung des Regierungslazareths mit einer Art von Leidenschaft führen. Frei von persönlichen Pflichten, ging sie in der Sorgfalt und den Interessen für ihr Hospital völlig auf und war davon so durchdrungen, daß sie auch außerhalb desselben nicht im Stande war, ihre Gedanken auf irgend einen andern Punkt zu richten. Wurde ihr halb scherzend vorgeworfen, daß Knochensplitter ihr liebstes Thema wären, so begann sie, jede Ironie arglos überhörend, sofort eine neue Krankheitsgeschichte. Kein Zug entging ihrer Beachtung, weder jener des Humors, der auf dem Januskopfe alles Menschlichen auch inmitten des größten Elends seine schalkhaften Linien zeichnet, noch die rührenden Episoden, welche, an nahe oder ferne Fäden geknüpft, diesen Krankenbetten mitunter so weihevoll nahten. Sie legte überall Hand an, wo es Noth that, griff geschickt zu, wenn es galt, einen schwer Leidenden umzubetten, hielt mit ihrem starken Nervensysteme selbst bei Operationen muthig aus und war die beste Gehülfin des Arztes. Dabei kannte sie die Leiden, Wünsche und Bedürfnisse, selbst die Launen jedes Einzelnen in allen Sälen, und wo immer ihr rundes mütterliches Gesicht sich blicken ließ, konnte man sicher sein, zugleich Behagen und Humor auftauchen zu sehen. Ja, es war ihr wirklich begegnet, von einem jungen Blute ganz treuherzig als „Mama“ bezeichnet zu werden, und, weit entfernt davon, dies dem gemüthlichen Rheinländer übel zu nehmen, war sie nicht wenig stolz auf ihre Popularität.

Nichts war ihr unbegreiflicher als ein Mangel an Enthusiasmus, wo es diese Interessen galt, und deshalb hatte sie auch jetzt voll staunenden Vorwurfs gerufen: „Aber interessirt Sie denn das nicht?“

Eugeniens von der Sprecherin halb abgewandtes Profil veränderte seine Richtung nicht. Wie in tiefster Zerstreuung hingen ihre Augen auf dem welken Laube, das den Boden deckte; sie ging vorwärts, doch glich ihre Bewegung der einer schreitenden Statue, so lautlos, so, man möchte sagen, regungslos glitt die schöne Gestalt dahin; Alles an ihr schwieg und lauschte, nur die langen Wimpern zitterten leise.

„Sie können doch diesen reizenden Menschen unmöglich bis auf den Namen vergessen haben!“ eiferte die Präsidentin, als selbst ihr Anruf keine Erwiderung fand. „Den vollendetsten Cavalier, der sich vor ein paar Jahren so angelegentlich um Sie bemüht hat! Ach, denke ich an diese Ballnacht und sehe ihn jetzt so hülflos auf dem Krankenlager, dann steigen mir Thränen in die Augen! Solch herrliches Bild frischesten Lebens, und nun seit Monaten im jammervollsten Zustande; nach unsäglichen Leiden kaum dem Tode entgangen!“

„Aber jetzt –“ sprach Eugenie tonlos, „sagten Sie nicht vorhin, Herr von Triefels sei außer Gefahr?“

„Außer Lebensgefahr, ja!“ nickte die Präsidentin, „aber wie elend noch! Bedenken Sie nur, liebes Kind, was ich Ihnen eben erzählte! Viele Wochen lang im Hospital zu Douchery, ohne daß nur daran zu denken war, ihn zu evacuiren, und nun die Anstrengung des Transports, von Etappe zu Etappe! Noch gestern sagte er mir, wie er sich an’s Ziel gesehnt, daß er solch Vertrauen zur hiesigen Quelle hat, und wie es ihn gequält, daß die Aerzte immer wieder tagelange Rast gefordert, ehe sie die Weiterreise gestatteten. Wir wollen ihn aber schon gesund pflegen! Ich bin sehr froh, daß die Officierszimmer in der Wilhelmsheilanstalt alle besetzt waren und er zu uns gekommen ist. Es freut ihn selbst, er hat es mir gesagt, und ich mußte ihm täglichen Besuch versprechen. Ei, versteht sich! Von Unterhaltung ist nun freilich nicht viel die Rede, die Brust muß noch sehr geschont werden, und vieles Sprechen ist ihm untersagt, aber man kann doch ein paar Worte wechseln, kann ihm Dies und Jenes zu Gefallen thun!“

„Und er wird genesen?“ fragte das junge Mädchen kaum hörbar.

„Vollständig!“ erklärte die Präsidentin zuversichtlich. „Der Arzt ist ganz zufrieden. Alles geht gut, weit besser als man zuerst erwarten konnte. Noch einige Wochen und wir sehen den tapfern Helden wieder als brillanten Cavalier. Denken Sie, Eugenie, er hat nach Ihnen gefragt, wollte wissen, ob Sie in Wiesbaden anwesend wären. Ich werde ihn von Ihnen grüßen.“

Die kleine, selbst durch den Handschuh eisig zu fühlende Hand spannte sich mit heftigem Drucke um den Arm der alten Dame. „In keinem Falle,“ sagte Eugenie mit halberstickter Stimme – „in keinem Falle!“

„Das ist aber Prüderie, meine Liebe,“ erwiderte die Präsidentin verdrießlich; „mein Gott, ein so schwaches Zeichen der Theilnahme, wie ein Gruß ist, kann man doch wahrlich einem alten Bekannten auf seinem Schmerzenslager gönnen.“

„Einem alten Bekannten, ja!“ sagte Eugenie jetzt mit voller Herrschaft über Ton und Blick; „aber wenn Sie bedenken, wie viel Zeit, welche Ereignisse zwischen einem längst verklungenen Ballabend und heute liegen, so geben Sie mir gewiß zu, daß ein Gruß von mir Herrn von Triefels befremden müßte, wenn ihn auch das Zusammentreffen mit Ihnen flüchtig an seine Tänzerin erinnert hat. Bitte also, lassen Sie es lieber!“

„Wie Sie wollen,“ schmollte die Präsidentin; „wäre ich an Ihrer Stelle, so schickte ich ihm nicht nur einen Gruß, sondern eine Rose, oder sonst etwas Zartes, wie es dem Kranken wohl thut, einem Helden gebührt! Aber ganz, wie Sie wollen; ich bescheide mich ja!“

Eugenie lächelte gedankenvoll, während sie der alten Dame in die vergebens unwilligen Ausdruck versuchenden Augen blickte und stehen blieb, um sich von ihr zu verabschieden, da Beide an dem zur Villa sich abzweigenden Pfade angelangt waren. Mit rascher Bewegung hob sie die Hand der Präsidentin an ihre Lippen und sagte liebevoll: „Wer von Ihnen gepflegt und gehegt wird, bedarf Nichts von außen!“ – Versöhnt und befriedigt blickte die gute Frau der lieblichen Gestalt nach, die im Hause verschwand, und setzte mit Ruhe ihren Weg nach der Stadt fort, nicht ahnend, welchen Sturm ihre Mittheilung im Innersten ihrer jungen Freundin zurückgelassen.

Er war hier! in ihrer Nähe! Verwundet – seit Monaten von Schmerzen gequält! – so nahe war ihm der Tod gewesen, daß eine Linie tiefer sein Herz für ewig still stehen ließ – das Herz, welches sie so streng von sich gewiesen! – Heute kämpfte sie nicht mehr gegen das ihre! Jeder Pulsschlag flog dem Geliebten zu, sie wog weder eine Schuld, noch dachte sie an Vergeben; nur ein Bewußtsein war kraftvoll lebendig: sie fühlte sich die Seine! Niemals hatte sie dem Erlebten freiwillig nachgehangen, es immer von Neuem fast gewaltsam von sich gescheucht und doch empfunden, daß Erinnerung gleich einer ewigen Lampe im tiefsten Schacht ihrer Seele glühte.

Eugenien war zu Muthe, als sei ein Reif gelöst, der gewaltige Kräfte gefesselt – und sie irrte nicht, denn die höchste Kraft ihrer Natur war Treue! Ihr stets zu den Höhen des Lebens strebendes Wesen hatte unter dem langen Widerstreite des Nichtwollens und doch Müssens unendlich gelitten, jetzt hob befreites Bewußtsein sie plötzlich weit über Kampf und Streit. Zugleich aber pochten die verzärtelten Kinder der Liebe, Sehnsucht und Erbarmen, mit mächtiger Stimme an ihr Innerstes! Seit dem Empfang jener Blüthen wußte sie, daß ihr Bild unerloschen in Triefels’ Seele lebte – durfte, mußte sie nicht jetzt durch ein ähnliches stummes Zeichen, das ihrer Frauenwürde nichts vergab, Licht über sein Schmerzenslager gießen? Alle die Gestalten, welchen ihre Hand seit Monaten Tröstung gereicht, all die Leiden, welche sie geschaut und mitempfunden, verkörperten sich ihr zu dem einen Bilde, dessen sehnsüchtige Augen sie anzuflehen schienen: „Einen Tropfen Deines süßen Trostes!“ Und doch klang durch all das Locken und Drängen die gleiche Empfindung tiefster Scheu, welche sie den Gruß durch eine Dritte hatte verweigern lassen, gleich dem Refrain jenes alten Liedes: „Sei still, mein Herz!“




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