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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

bewahrt; bei der Erinnerung an die Cameraden im Feindeslande, welche vielleicht in demselben Augenblick stritten um Leben und Tod, denen keine Weihnachtskerzen friedlich leuchteten wie hier! – Lautlos stand Jeder, bis der Geistliche sich am Schluß seiner herzerhebenden Worte dem in seiner Nähe aufgestellten Pianino zuwandte, mit festem Griff einige Accorde anschlug und dann mit bewegtem Tone das Weihnachtslied anstimmte: „O du heilige, o du selige, wonnevolle Weihnachtszeit!“

Wie zurückgedämmte, plötzlich entfesselte Fluth unaufhaltsam hervorbricht, strömte, brauste der Chorgesang gleichzeitig aus allen Kehlen und füllte den weiten Saal. Für einen Moment that sich der Himmel auf, die Weihnachtskerzen strahlten überirdisches Licht aus, höchste Weihe trug alle Herzen über Zeit und Raum. Hell klangen Frauen- und Kinderstimmen zwischen den kräftigen Lauten der Krieger, harmonisch wie die Empfindung, die Alle vereinte.

Triefels war, auf den rechten Arm gestützt, den Worten und Bewegungen des Predigers aufmerksam gefolgt; nun, beim Beginn des Gesanges, wandte er den Blick in die Tiefe des Saals zurück. Ein unwillkürlicher, ihm entschlüpfter Laut verhallte unter dem Brausen des Chors. An dem seinem Bette fast gegenüberstehenden Mitteltische, wo Stühle für die anwesenden Damen aufgestellt waren, hatte er Eugenie erblickt. Sie mußte eben erst eingetreten sein, denn sie saß nicht, gleich den Andern, sondern stand hinter einem der Sitze. Ihre Wange war durchsichtig bleich; die schweren Locken fielen kaum geordnet auf das schwarze Gewand, welches sie trug. Während Strophe auf Strophe des Gesanges dahinrauschte, stürzten immer neue Thränen auf die leichtgefalteten Hände nieder, die sich an die Lehne des Sessels stützten. Der schöne Kopf war tief gesenkt.

Und tief in sich gesenkt waren auch Eugeniens Gedanken. Gleich einem Traum wogte Alles an ihr vorüber, ihr war nicht weihnachtsfreudig zu Muthe. Seit einigen Tagen ruhte schwere Kunde in ihrem Herzen und webte sich durch all ihr Fühlen und Denken: Rudolph Eckhardt war vor dem Mont-Avron gefallen, und die Bestätigung der Nachricht durch Gotter an sie gelangt. Wie mächtig diese Botschaft an ihrem Innersten gerüttelt, kam ihr selbst erst allmählich zum Bewußtsein. Während sie in der Einsamkeit ihres Zimmers weinte und betete wie auf einem Grabe, entrang sich der Trauer ein Entschluß, der ohnedies wohl noch langer Kämpfe bedurft hätte.

Das junge Herz, dessen Hingebung sie erst in der letzten Stunde erkannt, dem sie durch ihr Abwenden so namenlos weh gethan, war stumm geworden – kein Blick, kein Wort vermochte fortan gutzumachen, was es um sie, durch sie gelitten! Ein anderes Herz aber, ihr mit gleicher Treue ergeben, schlug noch dem Leben, der Zukunft, und auch dies ließ sie leiden, durch gleiches Abwenden leiden, nur – weil Stolz und weibliche Scheu dem eigenen Wunsche des Vergebens und Gewährens den Sieg nicht gönnen wollten! Tief blickte Eugenie in die Gründe ihrer erschütterten Seele hinab! Unter dem Geläute der Weihnachtsglocken ward der letzte Kampf durchgerungen – dem Lebenden gerecht zu werden, erschien ihrer hochgespannten Empfindung zugleich als Sühne für den Todten.

Die letzte Strophe des Weihnachtsliedes verhallte. Eugenie erhob den Kopf und ließ ihren träumerischen Blick durch den Saal irren. War es magnetische Gewalt, die ihr Auge plötzlich mit jenem andern zusammentreffen ließ, das an ihr hing, als gälte es Tod oder Leben? Sie senkte es nicht; leuchtend, tief, unermeßlich tief ruhten über den Raum hinweg, der sie trennte, die Augen ineinander. Nur für einen Moment. Dann schob sich die durch den Saal fluthende allgemeine Bewegung als Schranke vor das stummberedte Erkennen.

Unter Anführung der Präsidentin, deren füllereiche Gestalt in wunderbarer Beweglichkeit bald hierhin, bald dorthin kugelte, begann die Vertheilung der Geschenke. Ein Schwarm junger Mädchen, theils zum heutigen Feste geladen, theils Pflegerinnen des Hauses, trug all die kleinen Gaben gleichzeitig in verschiedene Richtung und theilte mit lächelnder Freude den Weihnachtsgruß in alle die heiter dargestreckten Hände aus. Eugenie hatte an einem der Tische Posten genommen und reichte den hin und wieder Schwärmenden unermüdlich die Geschenke zu. Schon war das Meiste ausgetheilt, als die Präsidentin zu ihr kam und bittend sagte: „Nun, Eugenichen, heute müssen Sie lieb und gut sein und mir auch einmal einen Gefallen thun! Ja? Bringen Sie meinem armen Triefels ein Geschenk! was Sie wollen, ein Pfeifchen oder ein Notizbuch, nur damit er nicht ganz leer ausgeht! Von all den jungen Dingern will keine zu dem einzigen anwesenden Officier hingehen, und es wäre doch nicht nett, wenn solch alte dicke Mutter wie ich ihm ein Andenken an den hübschen Abend brächte. Ueberdies sind Sie die Einzige hier, die er von früher kennt; ich weiß gewiß, daß es ihn freuen würde, nicht wahr, Sie thun es mir zu Liebe?“

Eugenie nickte stumm, und während die Präsidentin befriedigt weiter eilte, suchte sie mit bebender Hand unter den vor ihr liegenden Kleinigkeiten herum, ohne zur Wahl zu kommen. Unschlüssig blickte sie vor sich hin; da streifte ihr Auge die zwischen den Sachen stehenden Ziergewächse. Purpur flatterte über ihr Gesicht. Sie neigte sich hastig vor und brach von einem der Bäumchen einen grünen Zweig. Dann blieb sie regungslos stehen. Im nächsten Augenblick jedoch schritt sie langsam und ruhig, mit gewohnter Anmuth um den Tisch, nach der andern Seite des Saales hinüber und stand an Triefels’ Lager.

Er hatte ihre ihm durch den Weihnachtsbaum halb verdeckte Gestalt während der letzten Minuten nur undeutlich unterscheiden können, und als er sie jetzt so unerwartet in seiner Nähe sah, stockte ihm Puls und Stimme. Ganz in Gluth getaucht, stand sie stumm vor dem Schweigenden. Plötzlich hob sie die Wimpern und sah ihn an.

Die zitternde Hand reichte ihm einen Orangenzweig.




Dankfest


Im weiten deutschen Reiche lag die Menge auf den Knieen, den Ewigen zu preisen! Wohl hatten schon vor Monden allerwärts die Fahnen dem Friedensfeste geweht, war der Glocken Feierstimme ihm erklungen – heute aber hob sich der Lobgesang überall zur gleichen Stunde und millionenfältig drang das Te Deum durch alle Lande. Wo immer deutsche Zunge sich regte, ein deutscher Tempel sich wölbte, trug das heilige Echo vollen Geläutes den gleichen Dankeslaut empor. Mit Blumen, den Symbolen des Friedens, schmückte sich die kleinste Waldcapelle so freudig wie der Hochaltar des stolzesten Doms – weit über das Land und Meer, im fernen Welttheil ertönte heute das hohe Lied: „Großer Gott, Dich loben wir!“

Und im Palaste der Könige, wie im Dachstübchen des Aermsten, überall wurden Feste gefeiert – wärmer drückte der heimgekehrte Krieger Weib und Kind an’s Herz, theurer als je ward ihm der heimische Herd, den er mit seinem Blute geschirmt.

Wohl wallte manche trauernde Gestalt gesenkten Hauptes zwischen all den Frohen dahin, aber wenn auch die Thräne noch so heiß niederstürzte, so ward doch empfunden, daß heute das schwarze Gewand nicht nur der Trauer, auch dem Preise der Theuren galt, daß die brennenden Schmerzen der Wittwe, der Waise nicht vergebens durchgerungen wurden, daß sich der Phönix Friede aus der Asche der Geliebten emporgeschwungen. Dem Boden, welchen sie mit ihrem Blute gedüngt, war stolze Saat entsprossen! Um Süd und Nord, von der Ostsee bis zur Alpe, spannte der alte deutsche Volksgeist kraftvoll den liebenden Arm, alles Getrennte vereinend, auch die lang entrissenen Stammgenossen trotz ihres spröden Abwendens mit dem Bewußtsein an sich ziehend, daß über allem Gewöhnen und Entwöhnen das treue vaterländische Herz mit seinem ewigen Besitzrechte steht.

Die Glocken, welche das Dankfest des 18. Juni eingeläutet, bedeuteten einem glücklichen Paare doppelte Feier. Vor demselben blumengeschmückten Altar, von dem aus das feierliche Loblied angestimmt worden, reichte Eugenie Arno Triefels die Hand zum Bunde für das Leben. Noch lag durchscheinende Blässe auf den Zügen des Genesenen, die feste Haltung der hohen Gestalt bewies aber, daß er sich wieder fähig fühlte, dem liebreizenden Wesen an seiner Seite nicht Liebe nur, auch Schutz und Stütze zu bieten.

Vielleicht lag in der Stimmung, womit Staatsrath Wallmoden der Trauung beiwohnte, etwas von der Empfindung, welche wir eben noch als die des neugewonnenen Stammlandes angedeutet – die Achtung war erobert, die unauflösliche Verbindung als Schluß und Recht des Schicksals erkannt und angenommen; um aber das Opfer in Neigung zu wandeln, bedurfte es noch – der Zeit.




Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_647.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)