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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Mannes angerichtet worden war. Weinend beklagte derselbe im Gerichtszimmer das Ereigniß mit dem Bemerken, er wisse wohl, daß der große Dichter Goethe im Häuschen gewesen sei. Vom großherzoglichen Kreisgericht Arnstadt wurde der Schuldige wegen fahrlässiger Brandstiftung zu zwei Monaten Gefängniß verurtheilt. –

So ist denn wieder eine Erinnerungsstätte deutscher Poesie Schutt und Asche. Aber die Magie geistiger Größe ist gewaltiger als die Macht des vernichtenden Schicksals: das Goethehäuschen sank in Trümmer – aber die Stätte, wo es gestanden, bleibt eine geweihte bis in die spätesten Tage deutschen Lebens, und wer die Berge von Ilmenau durchwandert, der gedenkt auf den ausgebrannten Resten des Goethehäuschen in Andacht des großen Mannes, der hier sein herrliches „Nachtlied“ gedichtet.

Julius Keßler in Ilmenau.




Der Vater des Kladderadatsch und der Berliner Posse.


Nachdem ich meine Studien in Berlin beendet und die Examina glücklich überstanden hatte, machte ich eine Reise in meine oberschlesische Heimath, um Verwandte zu besuchen. Einige Tage verweilte ich in Ratibor, das mir außer seinem bekannten schlechten Klima und seinem ausgezeichneten Ungarwein keine Merkwürdigkeiten bot. Den letzteren kredenzte mir, und zwar in den ältesten und vorzüglichsten Jahrgängen, ein lieber Jugendfreund; was ihm auch nicht schwer fiel, da er selbst einer der größten und renommirtesten Weinhändler Oberschlesiens war. Zur Feier unseres Wiedersehens nach so langer Zeit versammelte mein guter, leider zu früh gestorbener Wirth eine muntere Gesellschaft, unter der bald ein kleiner, unansehnlicher junger Mann von höchstens zwanzig Jahren mit krankhaftem, blassen, bartlosen Gesicht, aber interessanten, orientalischen Zügen durch seinen schlagenden Witz, liebenswürdigen Humor und seine sprudelnde Laune meine Aufmerksamkeit erregte, nachdem erst einige Gläser des köstlichen feurigen Tokaiers seine Zunge gelöst und die ihm angeborene Schüchternheit überwunden hatten.

Wie dies beim Weine zu geschehen pflegt, wurden wir schnell mit einander bekannt, da wir außerdem vielfache Anknüpfungspunkte und gemeinschaftliche Freunde hatten. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, daß er in Breslau geboren war, wo er bis zu seinem fünfzehnten Jahre das Gymnasium besuchte, um zu studiren. Durch den Tod seines Vaters, der die Familie in traurigen Verhältnissen zurückließ, sah er sich jedoch gezwungen, als Lehrling in die Handlung der Gebrüder Bauer, welche in Breslau ein ansehnliches Galanterie- und Möbelgeschäft besaßen, einzutreten. Nichts desto weniger erwarb er sich in kurzer Zeit die Zufriedenheit seiner Principale in so hohem Grade, daß sie ihm die selbstständige Leitung ihrer Ratiborer Commandite übergaben. Trotz dieser einträglichen Stellung und der Beliebtheit, deren er sich in den besten Familien der Stadt als heiterer Gesellschafter und talentvoller Gelegenheitsdichter erfreute, fühlte er sich hier keineswegs wohl, noch durch seinen kaufmännischen Beruf befriedigt, vielmehr verzehrt von einem unwiderstehlichen Drange nach Bildung und Wissen, wozu ihm weder die kleine Stadt noch seine Stellung die erwünschte Gelegenheit boten.

Mit jugendlicher Begeisterung schwärmte er für Poesie und Literatur, besonders für Börne und Heine, für die glänzenden Verirrungen der französischen Dichter, für Victor Hugo, Eugen Sue, Jules Janin und vor Allen für Beranger, wie wir Alle das mehr oder minder in jenen vormärzlichen Tagen thaten. Wiederholt von unserem Wirthe und von mir aufgefordert, eine Probe seines eigenen poetischen Talentes zu geben, entschloß er sich mit jungfräulichem Sträuben und schüchternem Erröthen, einige Verse vorzutragen, worunter sich eine „unterthänige Bitte an seine erzürnte Principalin“ befand, ihn von dem lästigen Abendbrode zu dispensiren. Die charakteristischen Strophen, von denen ich später eine Abschrift erhielt, lauteten:

„O halt’ es nicht für eiteles Vermessen,
Daß ich verletzt Dein strenges Eßgebot!
Preßfreiheit giebt es nicht; drum frei vom Essen
Eßfreiheit, Herrin! – und kein Abendbrod!

Nie würde diese Gnade ich vergessen,
Verspritzte gern für Dich mein Blut so roth,
Ich will des Mittags Alles, Alles essen –
Entsetzlich essen – nur kein Abendbrod.

Laß sterben nicht, ein Opfer der Kabale,
Mich einer Stopfgans schmachvoll knecht’schen Tod!
Laß ab, laß ab! sonst wird zum Abendmahle,
Zum letzten Mahl für mich – Dein Abendbrod.

D’rum, Herrin, denke, einst – o welch Entsetzen!
Gefunden werd’ ich todt beim Morgenroth;
Die Nachwelt wird mir dieses Denkmal setzen:
Er war Commis und aß kein Abendbrod.

Mit diesen Proben eines schon damals unverkennbaren Talents wechselten lustige Geschichten, Scherze und Anekdoten aus dem Breslauer Leben, Jugenderinnerungen aus seiner Gymnasial- und Lehrlingszeit, die von ihm in so drollig drastischer Weise vorgebracht wurden, daß wir laut auflachen mußten, während er selbst ganz ernst blieb und mit seinem blassen Gesicht fast melancholisch dreinschaute, wodurch unsere Heiterkeit nur noch erhöht und die Wirkung durch den Contrast gesteigert wurde. Mit unbeschreiblicher Komik schilderte er die eigenthümlichen Verhältnisse seiner Vaterstadt, das Treiben der zahlreich sich daselbst aufhaltenden polnischen Juden, sein erstes Debut in einem Tanzkränzchen, wo er in einem alten, beim Trödler erkauften braunen Leibrock mit blanken Knöpfen erschien, der ihm um eine Welt zu weit und zu lang war, seine Irrfahrten mit verschiedenen Schulfreunden, mit dem später als Verfasser der „Keilerei auf der Wartburg“ und als Dichter unvergessener Burschenlieder bekannt gewordenen Dr. Hermann Wollheim, mit dem kleinen, witzigen „Spatel“, einem verwachsenen, überaus humoristischen Handlungsreisenden, der als ein zweiter „Till Eulenspiegel“ in seinem Einspänner die kleinen schlesischen „Städte“ durchzog und mit der Trompete seine Kunden zum Kaufen einlud, hundert lustige Streiche verübend.

So zauberte der unansehnliche Commis, der David Kalisch hieß, mir das ganze alte, seitdem gänzlich veränderte Breslau vor Augen. Das gothische Rathhaus mit dem berühmten „Schweidnitzer Keller“, die engen winkligen Gassen, die dunklen Häuser mit ihren seltsamen Durchgängen, die polnischen Juden mit ihren gedrehten Locken und ihrem zersetzenden Witz, die Bierphilister mit ihrer schlesischen Gemüthlichkeit, die Studenten mit ihren Suiten, die zahlreichen Liebhabertheater, in denen er seine ersten dramatischen Eindrücke empfing, die lustigen Tanzkränzchen, wie sie Freytag in „Soll und Haben“ schildert, das ganze Treiben der schlesischen Hauptstadt mit ihrem Handel und Wandel und ihrer eigenthümlichen Poesie lebte wieder in meiner Erinnerung auf. Er selbst erschien mir an diesem Abend, der den ersten Grundstein zu unserer langjährigen Freundschaft legte, als das specifische Product dieser verschiedenen Elemente seiner Vaterstadt, des jüdischen Witzes und der dichterischen Leichtigkeit, jenes liebenswürdigen, schalkhaften Humors und witziger Gelegenheitspoesie, wodurch von jeher die Schlesier sich auszeichneten, durch Karl Schall, Grün, Geisheim und vor allen Holtei damals würdig vertreten.

Am nächsten Tag, wo ich Ratibor verließ, besuchte ich noch einmal den mir interessanten Commis, um von ihm Abschied zu nehmen. Ich fand ihn hinter dem Ladentisch, seine Kunden bedienend, mit Rechnungen und seinen kaufmännischen Büchern eifrig beschäftigt, sichtlich abgespannt, verstimmt und gedrückt, so daß ich kaum den gestrigen, ausgelassen heitern Gesellschafter, den witzig geistreichen Dichter wiedererkannte. Er schien mir mehr als je von seiner damals schon zuweilen ihn befallenden Hypochondrie und unter dem Druck der ihm widerwärtigen Geschäfte zu leiden, was er auch offen mir gegenüber aussprach, indem er sich über sein Loos bitter beklagte und wiederholt die Absicht zu erkennen gab, aus seiner bisherigen Stellung zu scheiden.

Zehn Jahre waren seit jenem Abend vergangen, als ich Kalisch in Berlin unter gänzlich veränderten Verhältnissen wieder sah. Aus dem unbekannten Commis in einer oberschlesischen Provinzialstadt war ein namhafter Schriftsteller, ein berühmter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 658. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_658.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)