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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Bei dieser Gelegenheit bestätigte sich wieder die bekannte psychologische Erfahrung, daß alte Leute sich ihrer ersten Jugendeindrücke weit besser erinnern als der späteren dazwischenliegenden Zeiten.

„Wäre es vor vierzig oder fünfzig Jahren passirt,“ sagte die Tante, „so würde ich es wahrscheinlich lange nicht so gut wissen.“

Bei Klopstock’s Tode (am 14. März 1803) war sie bereits elf Jahre alt, und sie befand sich unter den weißgekleideten Mädchen, die mit Rosen- und Eichenkränzen vor dem Leichenwagen gingen, dem ein Prachtexemplar der Messiade auf schwarzem, silbergesticktem Sammtkissen nachgetragen wurde[1], wie man sonst hohen Verstorbenen ihre Ordenssterne nachträgt …. hier wog dies eine Buch wohl alle Ordenssterne auf. Auch von dem Leichenbegängniß selbst, bekanntlich eines der großartigsten und glänzendsten, das je einem deutschen Dichter und Schriftsteller zu Theil geworden, hatte sie eine Menge Einzelheiten im Gedächtniß behalten. Am ergreifendsten war der Moment der Ankunft in Ottensen vor der Meta-Linde, wo aus der zurückliegenden, weitgeöffneten Kirche brausende Orgeltöne herausschallten, während ein zahlreicher Männerchor den ersten Vers des berühmten Klopstock’schen Vaterunsers sang – vielleicht eines der erhabensten Gedichte unserer gesammten Literatur:

Um Erden wandeln Monde,
Erden um Sonnen,
Aller Sonnen Heere wandeln
Um eine große Sonne:
Vater unser, der du bist im Himmel!

Der weite Kirchhof und die angrenzenden Straßen waren schwarz von Menschenmassen. Tausende knieten nieder und schluchzten und weinten laut, und unter den Klängen jenes Gesanges wurde der Sarg in die Gruft gesenkt, mit Blumenkränzen und Lorbeerzweigen überschüttet …. ein geliebter Landesfürst, ein König hätte nicht schöner und herrlicher bestattet werden können. Wochen und Monate lang pilgerten die Bewohner von Hamburg und Altona täglich hinaus, um das Grab zu besuchen, das man bis auf den heutigen Tag und mit Recht ein heiliges Vermächtniß der deutschen Nation nennen darf – „Saat von Gott gesäet, dem Tage der Garben zu reifen.“

Die gute Tante hatte Thränen in den Augen, als sie mir dies erzählte, und der Leser wird mir gewiß gern glauben, daß ich nicht minder gerührt war. Neunundsechszig Jahre waren seitdem vergangen und das elfjährige Mädchen, das einst unter den Hauptleidtragenden an dem Sarge unsers großen deutschen Dichters gestanden – als deutscher Dichter war Klopstock jedenfalls einer der größten! – saß mir jetzt als achtzigjährige Matrone gegenüber. Gewiß ein seltsames Spiel des Schicksals.

Die würdige Frau gewann indeß bald ihre frühere Heiterkeit wieder und zeigte mir nun verschiedene Andenken aus jener längst entschwundenen Zeit: – Bücher, Bilder, Portraits und Medaillen, unter den letzteren die schöne, jetzt so selten gewordene, große silberne Medaille, die man gleich nach Klopstock’s Tode, aber nur in sehr wenigen Exemplaren prägte: auf dem Revers die trauernde Polyhymnia am Grabe des Dichters. –

Wie war aber die Tante, trotz ihrer deutschen Geburt, Französin geworden und nach Frankreich und endlich nach Metz gekommen? Eine sehr nahe liegende Frage, die sich uns um so lebhafter aufdrängt, als es sich hier um ein Mitglied aus einer der deutschesten Familien im ganzen Vaterlande, der Klopstock’schen, handelt. Die Antwort ist einfach. Fräulein Klopstock verheirathete sich im Jahre 1811, also zu einer Zeit, wo Hamburg bereits dem napoleonischen Kaiserreiche einverleibt war, mit dem Sohne des französischen Obersten Kämmerer, der gleichfalls, wie schon der Name sagt, deutscher Abkunft war, und ihr Gatte wurde auch sofort als Beamter an der hamburgischen Postverwaltung, die natürlich damals eine französische war, angestellt. Die jungen Eheleute machten darauf die ganze schwere Zeit mit, die über Hamburg hereinbrach: die schreckliche Beschießung im Mai 1813 und den Einzug des Marschalls Davoust, der die unglückliche Stadt mit Feuer und Schwert verwüstete, den Bankschatz von vier Millionen Thalern raubte, eine Contribution von fünfzig Millionen Franken mit grausamer Härte eintrieb und gegen zehntausend unschuldige und friedliche Einwohner durch Niederbrennen der Vorstädte in wenig Tagen um Obdach und Habe brachte. Als die Franzosen endlich Hamburg räumen mußten, ging auch Kämmerer nach Frankreich zurück, natürlich in Begleitung seiner jungen Gattin, die auf diese Weise ihre Nationalität wechselte. Ihr Vater, Klopstock’s jüngerer Bruder, der als Privatgelehrter und Literat in Hamburg lebte, war bereits gestorben; wer weiß, was sonst geschehen wäre, namentlich wenn der alte Klopstock selbst ein Wort mitzusprechen gehabt hätte.

Das Ehepaar zog nach Longwy, einem festen Städtchen im Moseldepartement, hart an der luxemburgischen Grenze, wo der Gatte das Amt eines Postdirectors bekleidete und zwar bis zu seinem Tode im Jahre 1834. Ihre einzige Tochter verheirathete sich gleichfalls an einen Postbeamten, und als auch dieser gegen Ende der vierziger Jahre gestorben war, siedelten beide Wittwen nach Metz über, hauptsächlich um ihren dort lebenden französischen Verwandten, zu denen auch der oben erwähnte Archivar gehört, näher zu sein. Dort lebten sie still und zurückgezogen in sorgenfreier, gemüthlicher Häuslichkeit – und dort leben sie noch heute. Die Mutter, die ich hier stets die „Tante“ genannt habe, ist mittlerweile achtzig Jahre alt geworden, aber noch von seltener Geistesfrische und auch körperlich ganz gesund und wohlauf. Ich kann es mir schon meiner Leserinnen wegen nicht versagen, hier noch schließlich ein flüchtiges Portrait von ihr zu entwerfen. Sie erinnerte mich ganz an die alte Pflegemutter in der Stifter’schen Erzählung „der Hagestolz“: „eines jener schönen alten Frauenantlitze, die so selten sind. Ruhige, sanfte Farben waren auf ihm und jedes der unzähligen kleinen Fältchen war eine Güte und eine Freundlichkeit.“ Auch die „schneeweiße, gekrausete Haube“ und die „feinen silbernen Haarlöckchen“ fehlten nicht; die Haube war überdies noch mit violettem Seidenband zierlich garnirt und von einer breiten gleichfarbigen Schleife unter dem Kinn zusammengehalten. Das lichtgraue, seidenglänzende Kleid paßte ganz dazu, fast wollte es mir etwas zu jugendlich erscheinen; aber wenn ich dann wieder in die klaren und so überaus freundlichen Augen der Dame hineinsah, auch das lebhafte Mienenspiel ihres Gesichtes und ihre leichten Bewegungen betrachtete, so konnte ich mir nur schwer einreden, daß sie bereits das sechszehnte Lustrum überschritten und daß das erste Decennium ihres Lebens noch dem vorigen Jahrhundert angehörte. Und doch hatte auf die blonden Locken dieses nun ergrauten Hauptes einst der Dichter Klopstock seine segnende Hand gelegt und das blühende Mädchenantlitz geliebkost und gestreichelt, wenn die Kleine ihr Pensum gut hersagen konnte; dann auch erzählte sie mir, wie sie bei dem Onkel buchstabiren und lesen gelernt hatte. Wahrlich eine andere und ungleich schönere Erinnerung, als die meinige, freilich in demselben Hause, aber bei der häßlichen Madame Meyer.

Die harte Belagerung von Metz vor zwei Jahren machten Mutter und Tochter muthig und, Dank ihrer vielen Freunde, ohne weitere Noth und Entbehrung mit; jetzt aber, wo Stadt und Land wieder deutsch geworden sind und es sich auch für unsere beiden Damen um die Wahl einer Nationalität handelte, haben sie sich sofort für Deutschland entschieden.

„Wenn man Klopstock heißt,“ sagte mir die Tante mit leuchtenden Blicken, „so kann man nur für Deutschland optiren.“

Ein nobles, echt deutsches Wort und ganz des großen Oheims würdig. Die Tochter theilt diese Gesinnung, und die Damen sprachen dieselbe schon offen aus, als sie noch nicht einmal sicher waren, ob die Reichsregierung auch die französischen Pensionen und Jahrgehälter mit übernehmen würde. Jetzt wissen wir längst, daß dies in liberalster Weise geschehen wird, aber wenn es auch nicht der Fall wäre, so hätte es wohl nur eines Winkes nach Deutschland hinüber bedurft, um in dieser Beziehung sofort alle Besorgniß zu heben. Gottlob ist das nicht nöthig, aber manchen Leser dieses Blattes dürfte meine Mittheilung dennoch erfreut haben, und er denkt vielleicht jetzt mit größerer Theilnahme nach der Hauptstadt von Deutsch-Lothringen hinüber, seitdem er weiß, daß eine Nichte des Sängers der Messiade (zugleich der letzte Nachkomme dieses Mannes) in ihren Mauern weilt.

Die Tante selbst lebt ganz in dieser Erinnerung. Sie hat merkwürdiger Weise, obwohl sie seit sechszig Jahren nur selten Gelegenheit fand, Deutsch zu sprechen, ihre Muttersprache nicht vergessen und liest noch oft in den Gedichten ihres großen Oheims. Dann sitzt sie am Fenster ihres freundlich und sauber

  1. S. unter Anderm „Klopstock’s Gedächtnißfeier von Dr. F. J. L. Meyer. Hamburg 1803“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_675.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)