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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Blätter und Blüthen.


Schlangenzauber. Unter den vielerlei Arten von Aberglauben, die in Amerika grassiren, ist auch derjenige verbreitet, daß giftige Schlangen im Stande seien, Menschen zu bezaubern, namentlich Kinder. Zwischen Kindern und Giftschlangen soll eine besondere Sympathie bestehen, sie sollen einander, wo sie nur immer Gelegenheit finden, sich anzunähern suchen. Ja es wird behauptet, daß es nicht räthlich sei, ihnen den wechselseitigen Umgang zu wehren, die Kinder von den einmal liebgewonnenen Schlangen zu trennen, weil sonst die Kinder aus einer Art Heimweh nach der Schlangengesellschaft erkranken, langsam abzehren und sterben. Es mochte im Juli 1865 sein, daß ich, damals in West-Canada verweilend, aus mündlichen Erzählungen wie aus öffentlichen Blättern, freilich mit mancherlei Abänderungen aufgetischt, folgende Geschichte vernahm.

In Gilmanton, im Staat New-Hampshire, so lauteten die Nachrichten, befinde sich ein hübsches, etwa achtjähriges Mädchen, das einzige Kind eines Wittwers, welches schon seit einigen Wochen der Gegenstand des Dorf- und Stadtgesprächs sei wegen einer besonderen merkwürdigen Begebenheit, die sich mit ihm zugetragen. Das Kind sei einmal vom Hause seines Vaters weggelaufen, um in einem nahen Wald Blumen und Brombeeren zu suchen, und da habe es Bekanntschaft mit einem Paar kohlschwarzer giftiger Schlangen gemacht, das heißt es sei von ihnen bezaubert worden, sie hätten in ihm eine solche Zuneigung erweckt, daß es darüber das Nachhausegehen fast vergessen habe.

Der Vater des Kindes hätte einige Male bemerkt, daß es sich den Tag über vom Hause entferne und spät zurückkehre, ohne auf das Befragen, wo es so lange gewesen, bestimmte Antwort zu geben. Ja es zeigte sich jedes Mal in sichtbarer Verlegenheit, so oft man sich nach seinem langen Ausbleiben des Näheren erkundigen wollte. Das kam dem Manne verdächtig vor, und er beschloß, der Sache auf die Spur zu kommen.

Als das Mädchen sich wieder einmal vom Hause entfernte und sich bald, vom Fahrwege ablenkend, in’s Gebüsch verlor, schlich ihm der Vater in einiger Entfernung nach, um aufzuspähen, wohin es gehe und wo es sich verweile. Er mußte, weil er nicht dreist vorgehen, sondern versteckt bleiben und das Kind ungestört belauschen wollte, lange suchen, behutsam durch das Gestrüpp sich winden, bis er in die Nähe eines hochgewachsenen Gebüsches kam, hinter dem sich ein ziemlich weiter Rasenplatz befand, hell von der warmen Sonne beschienen. In der Mitte des Platzes befand sich ein bemooster Steinhaufen, theilweise mit niedrigem Strauchwerk bedeckt. Und hier in der Nähe des Steinhügels hatte sich das Kind auf dem sonnenwarmen Grasboden niedergelassen und spielte – anfänglich zum größten Schreck des Vaters – mit zwei großen rabenschwarzen Schlangen, die aus dem Steinhaufen, sobald sich das Kind in der Nähe desselben niedergesetzt hatte, hervorgekrochen waren, sich von seinen Händen streicheln ließen, in seinem Schooß sich ganz behaglich ringelten und wieder öffneten, um sich schmeichelnd um seinen Körper zu schlingen. Nachdem der Vater einige Zeit zugesehen, rief er seinem Kind laut mit Namen, so daß es heftig darüber erschrak und sich erhob, worauf die Schlangen in ihr Versteck zurückkrochen, als ob sie die rauhe Mannesstimme verscheucht hätte.

Im Nachhausegehen gestand das Kind seinem Vater, daß es die Schlangen liebe und, seitdem es zum ersten Mal mit ihnen zusammengetroffen sei, es nicht lassen könne, sie immer wieder zu besuchen und mit ihnen zu spielen.

Der Vater machte ihm aber ernstliche Vorstellungen dagegen, mit so falschen, giftigen Thieren vertraulichen Umgang zu pflegen; es könnte ein böses Ende nehmen. Er verbot ihm geradezu, bei Androhung von Strafe, dieses gefährliche Spiel fortzusetzen. Das Kind versprach, dem Vater zu folgen; aber ein unwiderstehlicher Antrieb lockte es immer zum Walde und in die Gesellschaft der Schlangen. Trotz Verbot und Versprechen machte es, so oft es ihm möglich war, sich heimlich vom Hause zu entfernen, seine alten Gänge, liebkoste das Giftgewürm und ließ sich von demselben liebkosen. Keine Ueberredung, keine Strafe übte so viel Gewalt über das Gemüth des Kindes, daß es die große Gefahr gemieden hätte.

Der Vater sah sich endlich genöthigt, das Kind in seiner Abwesenheit einzusperren. In seiner Gefangenschaft zeigte sich aber das Kind bald äußerst niedergeschlagen, bald heftig aufgeregt, verschmähte hartnäckig Speise und Trank zu sich zu nehmen, so daß es anfing sichtlich abzuzehren. Um nun das Kind nicht elendiglich hinsterben zu lassen, wußte der Vater am Ende kein anderes Mittel mehr, als die Schlangen zu sich in’s Haus zu nehmen.

In einem nahen Schuppen beim Hause befand sich ein großer unbenützter Futterkasten mit verschließbarem Deckel. Da brachte der Mann etliche Luftlöcher an, bereitete ihnen darin ein warmes Lager aus Moos und etlichen Stücken von einem alten, wollenen Fußteppich. Verschiedene Kräuter, Obst, Würmer, Kröten etc., waren die Nahrung der Schlangen. Wollte das Kind mit ihnen spielen, so ging es zum Kasten und nahm sie heraus.

Da nun – so erzählt der Vater – habe man bei näherer Beobachtung ein äußerst merkwürdiges sympathetisches Verhältniß zwischen dem Kinde und den Schlangen bemerken können. Wenn die Schlangen z. B. in ihrem Neste schliefen, so schlief auch das Kind an seinem Ort, wo es sich gerade befand, und so auch zeigte es sich wachend, sobald die Schlangen wachten. Wenn man das Kind in sein Bett brachte, rollte es sich ganz nach Schlangenart zusammen, so daß der Vater, eine schlimme bleibende Verwachsung befürchtend, sich oft veranlaßt sah, die zusammengekrümmten Beine wieder gerade zu strecken.

Als diese in gar mancherlei Weise ausstaffirten Zeitungsnachrichten in der Heimath der Geisterklopferei ungeheures Aufsehen erregten, dachte der Vater des Kindes, ein schlauer Yankee, sofort daran, dieses erstaunliche, unerklärliche „Wunder“ auch in natürlicher, greiflicher Weise auszubeuten. Nachdem er die nöthigen Vorbereitungen dazu gemacht, ein einspänniges Wägelchen mit einer Plane, einen leicht transportablen Schlangenbehälter sich angeschafft, entschloß er sich mit Kind und Schlangen nach allen größeren Städten der Union zu reisen, und dem großen Barnum in New-York Concurrenz zu machen. Er hegte die Hoffnung, mit seinem „Schlangenwunder“ schon in Jahr und Tag so wunderbare Geschäfte gemacht zu haben, daß er nimmer nöthig hätte, als ärmlicher Landbauer oder Hausirer mit kurzen Waaren sein karges Brod zu verdienen. Der Anfang der Wunderproductionen zu Stadt und Land entsprach in der That den Berechnungen und Erwartungen des geschäftsverständigen Yankee und brachte ihm einen sehr leicht verdienten und schwer wiegenden Gewinn.

In einigen Städten, wo er seine Wunder zum Besten gab, befanden sich unter der Masse des wundersüchtigen Amerikanervolkes auch etliche deutsche (spöttisch „Dötschmän“ geheißen), die unter den dortigen Frommen und Glaubensseligen meist als „ungläubig“ und „gottlos“ verrufen sind, aus keinem andern Grunde, als weil sie in religiösen Dingen heller und richtiger denken, als die gewöhnlichen amerikanischen Sectenchristen.

Einige dieser nüchternen deutschen Männer wollten zuerst bemerkt haben, daß das Mädchen durchaus keine zärtliche Neigung für das Giftgewürm besitze, ja eher eine schwer unterdrückbare Angst und Ekel verrathe, so oft die Schlangen ihren Leib berührten, um ihren Hals und ihre Arme sich ringelten und an ihren Busen sich schmiegten. Für diese Wenigen lag der Verdacht nicht fern: der fein speculirende Yankee gehöre wahrscheinlich in die Classe der marktschreierischen Gaukler, er habe die Schlangen und sein Kind blos abgerichtet, das Ganze sei eine leere Komödie, eine Art Barnumspuff, um mit lauter Spazierenfahren ein ausgezeichnetes „Bisneß“ (Geschäft) zu machen, und nebenher die Leute noch auslachen zu können, die so dumm seien, über sein Wundertheater die Augen aufzusperren und Schillinge zu opfern. Allein die Masse der Wundersüchtigen und Starkgläubigen verachtete solche Stimmen, und dreimal, wenn sie aus dem Munde eines „Dötschmän“ kamen.

In der Stadt Boston, die unter allen Städten Amerikas durch ihre religiöse Aufklärung, berühmt ist, die auch unter den eingeborenen, englisch sprechenden Amerikanern freisinnige Prediger besitzt, sollte das rollende Glücksrad des pfiffigen Yankee seinen ersten Stoß erhalten und das unerklärliche Sympathiewunder zum begreiflichen Durchbruch kommen …

Während der Production vor einer großen Zuschauermenge ereignete sich ein höchst unwillkommener, sowohl das Publicum wie die spielenden Personen mit einem plötzlichen Schreck überraschender Vorfall.

Eine der Schlangen mußte ihre Lection vergessen haben, oder war sie in irgend einer Art dazu gereizt worden – sie biß das Kind in den Arm, daß es anfing laut aufzuschreien und das Thier von sich zu schütteln. Die Zuschauer sahen in diesem Ereigniß den sichern Tod des Kindes schon voraus, weil sie, wie der Vorzeiger des „Wunders“ sie hatte glauben lassen, die Schlangen wirklich für giftige Thiere hielten, schon ihre schwarze Teufelsfarbe ihnen nichts Gutes verhieß … Die Polizei wurde sofort von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt, der Mann sammt Kind und Schlangen in Verwahrung genommen und ihm der Proceß gemacht. Es stellte sich zur augenscheinlichen Ueberzeugung heraus, daß der Vater die ganze Einleitung zur Aufregung der Neugier des Publicums, die Sympathiegeschichte zwischen Kind und Schlangen, rein erdichtet hatte. Vielmehr waren die Schlangen noch jung von ihm gefangen und, trotz Widerstreben seines Kindes, mit diesem in Berührung gebracht und in Dressur genommen worden. Die Giftzähne hatte ihnen der Yankee, wie er nun angab, zu seiner und seines Kindes Sicherheit längst ausgebrochen.

Der Vater wurde angeklagt, sein eignes Kind durch die Schlangen einer täglichen Lebensgefahr ausgesetzt zu haben, und mußte fünfhundert Dollars Caution stellen, mit dem Versprechen, sich des Mißbrauchs der väterlichen Gewalt nicht mehr schuldig zu machen. Seine empfindlichste Strafe bestand aber in der Enthüllung seines Lügenwerks und daß er als Betrüger an den Pranger der Oeffentlichkeit bestellt wurde.

Die Wundergläubigen zogen, als die nackte Thatsache bekannt wurde, freilich lange Gesichter; aber unter einem durch kirchlichen Wahn- und Wunderglauben an seinem gesunden Menschenverstand so sehr beschädigten Publicum findet der nächste Betrüger immer wieder seine blindgläubige Herde.

J. E.




Pater Smaelen. Der Streit auf dem religiösen Gebiet ist in Belgien ganz verschieden von dem, welcher in diesem Augenblick Deutschland beschäftigt. Der Kampf gegen die Jesuiten, diese Feinde des Staates und der ruhigen Entwickelung der bürgerlichen Errungenschaften, hat noch nicht begonnen. Einzelne Manifestationen schwacher Körperschaften oder noch schwächerer Persönlichkeiten können nicht dafür gelten.

Der Unwille gegen die Clerisei hat in Belgien indessen in einer eigenthümlichen Bewegung einen Ausdruck gefunden, der in seinen Folgen vielleicht gewichtig sein möchte, wenn auch im Anfange weniger in die Augen fallend. Vor fünfzehn bis zwanzig Jahren hat diese Bewegung ihren Ursprung genommen, sie ist im steten Wachsen begriffen und wenn auch bis jetzt noch unbedeutend im Ganzen, so wird sie sich doch Bahn brechen: ich meine das individuelle Sichlosreißen des Bürgers von allen kirchlichen Ceremonien, welches nur in Folge der freisinnigen Gesetze Belgiens möglich ist. Selbstverständlich ist, daß, wenn diese Bewegung um sich greift, es mit der Macht der Pfaffen zu Ende sein wird; wenn man dem Bäcker kein Brod mehr abkauft, so macht der Bäcker Banquerott und wird Ziegelbrenner oder Schneiderlehrling.

Diese neue Partei nennt man in Belgien schlechtweg „libres-penseurs“ (Freidenker). Es ist keine religiöse Secte, sie macht keinerlei Propaganda; sie kämpft nur mit der Waffe des öffentlichen Beispiels, und je mehr einflußreiche, geachtete Persönlichkeiten zu ihr übertreten, desto mehr Macht und Ansehen gewinnt sie selbst. Ihre Thätigkeit gipfelt in dem civilen

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