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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 45.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


„Darf ich nicht erst das Bild wegstellen?“ sagte Brandow.

„Auf keinen Fall!“ rief Alma, „ich kann mich nicht davon trennen; und für Sie, lieber Freund, müßte es doch doppeltes Interesse haben. Sehen Sie doch nur, wie kräftig diese Buchen hier im Vordergrund! wie bequem der Blick in den zweiten Plan hinübergleitet und in süßer Ruhe dort verweilt, um dann recht sehnsuchtsvoll in die blaue duftige Meeresferne hinauszuschweifen, oder sich mit Lust auf der braunen Haide zu ergehen.“

„O gewiß, gewiß,“ sagte Brandow, ohne das Bild, das ihm jetzt unmittelbar gegenüberstand, anzusehen; „es soll Dollan sein, nicht?“

„Soll sein!“ rief Ottilie, „aber Herr Brandow, Sie wollten es ja damals selber kaufen! erinnern Sie sich denn nicht, als Ihre Frau und ich vor dem Bilde standen und Sie herzutraten?“

„O gewiß, gewiß!“ sagte Brandow.

„Ich möchte wetten, unsere Herren sind jetzt dort auf jener braunen Haide,“ sagte Alma.

„Gewiß, sicher,“ sagte Brandow.

„Unmöglich!“ rief Ottilie, „oder sie müßten dort ein Unglück mit dem Wagen gehabt haben, was wir denn doch nicht fürchten wollen.“

„Freilich, o gewiß nicht!“ sagte Brandow, sich mit dem Taschentuch die Stirn trocknend.

„Sie sind angegriffen, Herr Brandow; ich darf Ihnen eine Erfrischung anbieten!“ fragte Ottilie, nach der Klingel greifend und dann aufstehend, um dem Dienstmädchen, das alsbald eintrat, ihre Befehle zu ertheilen. In demselben Augenblick beugte sich Alma vornüber und flüsterte, Brandow die Hand hinhaltend: „Mein theurer Freund, wie freue ich mich, Sie zu sehen! Was haben Sie denn mit Hugo gehabt? ich dächte doch, es läge in unser Aller Interesse, daß Ihr gute Freunde bleibt.“

Brandow hatte die kleine weiße Hand genommen und flüchtig an seine Lippen geführt.

„O gewiß, gewiß, meine schöne Freundin,“ sagte er; „ich bin ja eben deswegen hier, es ist eigentlich gar nichts, ich war etwas aufgeregt durch – ich – o meine gnädige Frau, weshalb das? ein Glas Wein, wenn Sie durchaus befehlen, sonst bitte, bitte, keine Umstände!“

Er hatte sich zu Ottilien gewandt, Alma zog sich schmollend in ihre Ecke zurück; Brandow war heute doch sehr sonderbar, so kalt, so gar nicht wie sonst. Alma beschloß, ihn dafür zu strafen, wenn Gotthold kam, und, um die Strafe noch zu verschärfen, die paar Minuten bis dahin noch ganz besonders liebenswürdig zu sein.

Aber die Minuten vergingen, die Pendule schlug elf Uhr, sie schlug ein halb zwölf – seit Brandow’s Kommen war eine Stunde vergangen, und noch immer ließ sich kein Wagenrollen vernehmen, nur das Sausen der hohen Pappeln auf dem kleinen Platze vor dem Hause und das Klatschen des Regens gegen die Fensterscheiben, so oft eine Pause in dem Gespräche eintrat. Und es trat, je später es wurde, desto öfter eine solche Pause ein, da Ottilie gegen ihre Gewohnheit fast gar nicht an der Unterhaltung theilnahm, Alma, wie immer, genug zu thun glaubte, wenn sie durch gnädiges Lächeln die Erlaubniß gegeben, sie zu amüsiren, und Brandow heute Abend gar nicht der angenehme Gesellschafter war, für den er im Allgemeinen galt. Die Unruhe, mit welcher er von einem Gegenstande zum andern sprang, hatte etwas Fieberhaftes, sein Lachen klang gezwungen; und dann schien er wieder gar nicht zu bemerken, daß schon seit längerer Zeit kein Wort gesprochen war, und saß da, auf das Bild starrend, bis er plötzlich sich zusammenraffte und von Neuem zu sprechen begann mit einer übertrieben lauten Stimme, deren harter Klang Ottilien jedesmal erschreckte. Ottiliens Unruhe war von Minute zu Minute gestiegen. Sie war schon ein paar Male aufgestanden, an das Fenster getreten und hatte, die Vorhänge zurückschiebend, in die Nacht geblickt, die der trübe Schein der Lichtchen in ein paar schaukelnden Laternen wo möglich noch dunkler machte.

„Ich ängstige mich doch gar zu sehr,“ rief sie endlich, sich wieder vom Fenster in das Zimmer wendend.

„Es ist allerdings auffallend,“ sagte Brandow; „wir haben jetzt zehn Minuten vor Zwölf; sie müßten seit einer Stunde hier sein.“

„Und auch mein Mann kommt nicht,“ sagte Ottilie.

„Sei doch froh, wenn er sich amüsirt,“ sagte Alma. „Wollen Sie schon fort, lieber Freund?“

„Ich will versuchen, uns Aufklärung zu verschaffen,“ erwiderte Brandow, der sich hastig erhoben und seinen Hut genommen hatte.

„Sie werden doch sich nicht noch einmal in die Nacht hinauswagen?“ rief Alma.

„Aber Alma!“ sagte Ottilie.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_733.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)