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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

bis dahin keinerlei Beziehungen stattgefunden hatten, als die allergewöhnlichsten geschäftlichen.“

Auf des Kaufmanns ernstem, dunklem Gesicht lag eine tiefe Rührung, als er nach einer kleinen Pause mit einem eigenthümlich weichen, leisen Klang seiner tiefen Stimme sagte:

„Und wenn ich Sie und Sie mich nicht erst vor wenigen Tagen gesehen; wenn ich Sie, als Sie ein Knabe von vier, fünf Jahren waren, schon auf dem Arm geschaukelt hätte; wenn das Interesse, das ich an Ihnen nehme, auf einem viel tieferen Grunde ruhte, als auf unseren geschäftlichen Beziehungen; wenn es sich mit Allem verknüpfte, was die Poesie und den Glanz meines Lebens ausmacht: wie dann, mein lieber junger Freund, wie dann?“

„Sie haben meine Mutter gekannt?“ fragte Gotthold ahnungsvoll, „Sie müssen sie ja gekannt haben!“

„Ich habe sie gekannt und – ich habe sie geliebt. Sie kennen und lieben war für mich damals Eines, ja scheint mir noch in diesem Augenblicke zu einander zu gehören, wie Licht und Wärme.“

„Und meine Mutter – hat Sie geliebt. Sprechen Sie es aus und lösen Sie das Räthsel, das bis jetzt für mich unlösbar über dem Verhältniß meiner Eltern geschwebt hat.“

Wollnow schüttelte den Kopf. „Nein, nein,“ sagte er, „so ist es nicht; und wenn es einen Augenblick schien, war es eben nur ein Schein, und es ist der schmerzensreiche Stolz meines Lebens, daß ich mich durch diesen Schein nicht blenden ließ, daß ich durch ihn hindurch den rauhen Pfad erkannte, den mich die Pflicht, den mich die Ehre wandeln hieß.“

„Sie verdichten das Räthsel, anstatt es zu lösen,“ sagte Gotthold.

„Ist mir doch selbst bis auf diese Stunde so Manches in diesem Drama räthselhaft geblieben,“ erwiderte Wollnow, die Augen mit der Hand bedeckend; „nur das Eine nicht, wie ein Mann von dem Gepräge Ihres Vaters, ein so hochbegabter, von der heiligen Leidenschaft der Wahrheit durchglühter Mensch, in dem Herzen Ihrer nicht minder begabten, nicht weniger hochstrebenden Mutter eine allmächtige Liebe erwecken mußte. Ich sage Ihnen, mein Freund, wenn es je eine Liebe gab, wie Sie sie neulich schilderten, so war es die, welche diese beiden schönen auserwählten Menschen zu einander trieb, zwei Flammen gleich, die einander entgegenrauschen. Wer Zeuge dieses herrlichen Schauspiels war, er stand bewundernd und sprach: es kann ja nicht anders sein! Mein armer geliebter Eduard sagte es; für ihn war es ein Todesurtheil; ich sagte es ebenfalls und ich glaubte, das Herz sollte mir brechen; aber mein Herz war stärker, als ich dachte, und dann: ich wollte leben! Da lebt sich’s denn schon, mein Freund, wenn es auch anfänglich ein recht elendes, erbärmliches Stück Leben ist.“

Wollnow schwieg, weil er fühlte, daß er mit auch nur einiger Fassung nicht weiter sprechen konnte. Nach einer Weile hob er wieder an:

„Ich bin jetzt nicht im Stande zu beurtheilen, ob ich ein Unrecht that, als ich mich Ihnen gegenüber zu diesen Geständnissen hinreißen ließ; ich würde aber gewiß ein Unrecht begehen, – an dem Andenken Ihrer Eltern, an Ihnen, lieber junger Freund, ja, an mir selbst, wollte ich jetzt nicht Alles sagen, wenn dieses Alles auch nur wenig, und dieses Wenige furchtbar bedeutsam für die traurige Ungewißheit des Menschenlooses ist.

Das schöne junge Paar war hierher gezogen; ich sah sie nach wenigen Jahren, als mich die Geschäfte meines Hauses in diese Gegend führten, zufällig wieder, denn ich wäre einer Begegnung, welche für mich nur schmerzlich sein konnte, gewiß aus dem Wege gegangen. Aber an meinem Wagen brach, als ich durch Rammin kam, unmittelbar vor dem Pastorhause ein Rad. Ich wurde herausgeschleudert mit einer solchen Heftigkeit, daß ich mir den Arm aus dem Gelenke fiel, und die Gastfreundschaft Ihrer Eltern auf mehrere Wochen in Anspruch nehmen mußte. Sie können sich meiner nicht mehr erinnern; ich sehe es noch vor mir, das lockige, großaugige Bübchen, das vergnüglich in dem Garten zwischen den Asterbeeten zu den Füßen seiner Mutter in der Herbstsonne spielte und, Gott sei Dank, keine Ahnung davon hatte, was der düstere Blick bedeutete, mit dem die junge, schöne Mutter so oft über das spielende Kind weg in das Leere starrte. Ach, für sie blühten die Blumen nicht, für sie schien die liebe Sonne nicht; um sie war Alles dunkel, und dunkel war es in ihr, in ihrem jungen heißen Herzen. Und so war es in dem heißen Herzen des Mannes, den sie einst, der sie einst so leidenschaftlich geliebt, den sie und der sie – ich bin fest davon überzeugt – noch in diesem Augenblick mit nicht geringerer Leidenschaft liebte, in diesem Augenblick, wo sie sich bereits zu hassen schienen, vielleicht zu hassen glaubten. Ach, lieber Freund, ich will nicht predigen; ich will nicht unsern Streit von neulich wieder aufnehmen; aber wie kann ich anders, als die Wunde berühren und sagen: es war auch hier wieder – und hier in einer verhängnißvollen Weise – jene Maßlosigkeit, die sich nicht begnügen will mit dem, was ist; nicht daran arbeiten will, aus dem, was ist, das Mögliche zu machen; sondern, sich loslösend von den natürlichen Bedingungen, nach der Verwirklichung eines Phantasiegebildes strebt. Diese beiden herrlichen Menschen, die sich einander so viel bieten, so viel sein konnten, achteten dieses Viel für Nichts, weil es nicht Alles war. Er sollte nicht nur der Gottesstreiter sein, vor dem sie anfangs bewundernd geknieet, er sollte sich auch als jeder Tugend theilhaftig erweisen, die das geistvolle, vielumworbene Mädchen je in einem Manne bewundert hatte; sie sollte zu ihren übrigen Reizen, mit denen sie die Natur verschwenderisch geschmückt, auch noch – ich weiß nicht, welche mystische Krone tragen, ohne welche alle Erdenschönheit in den Augen des schwärmerischen Apostels werthlos war. Und anstatt nun zu versuchen, die nothwendigen Unterschiede der Naturen durch liebevolles Entgegenkommen, durch Geduld, durch Sanftmuth so viel wie möglich auszugleichen, und über den Rest, der immer bleiben wird, mit Ehrfurcht vor der Allkraft, von der wir nur ein Theil sind, wegzusehen, steigerte jedes mit verhängnißvollem Trotz seine specielle Kraft in’s Uebermaß: er wollte nur durch einen Spiegel in dem dunklen Wort sehen und lesen; sie, die immer viel zu stolz gewesen, um eitel zu sein, behauptete, daß ihr der Spiegel nichts sage, als daß sie jung und schön sei, wie es die Welt sei, trotz aller Kopfhänger und Grillenfänger. Und nun dieser seltsame Kampf in dem stillen Pfarrhaus eines kleinen Dorfes auf einem vom Weltverkehr damals noch fast abgeschlossenen Eiland, – was Wunder, daß die beiden Unglückseligen aus tiefen Wunden bluteten, und verbluten mußten, wenn – sie sich nicht zur rechten Zeit trennten, denkt und sagt in einem solchen Falle die Welt. Ich weiß es wohl; aber ich für mein Theil dachte nicht so. Ich sagte mir: diese beiden Menschen können sich nie mehr vergessen und nie verlieren, und wenn sie eine Welt zwischen sich legten, und nächst ihnen selbst würde es Derjenige am meisten büßen, der wahnsinnig genug wäre, zu dieser Trennung die Hand zu bieten. So sagte ich auch der jungen Frau, die ihr Leid vor mir nicht verbergen konnte oder wollte; ich sprach zu ihr – wie ich es für meine Pflicht hielt, mit herzlicher Eindringlichkeit; und, ich darf es ja wohl bekennen, indem ich so sprach, übertönte ich die Stimme nicht meiner Ueberzeugung, aber meines eigenen Herzens, das in diesen wunderlichen Scenen mir die übervolle Brust zu sprengen drohte. Jetzt erst erfuhr ich, daß ich dem schönen Mädchen, bevor der Rechte kam, viel näher gestanden, als ich je zu hoffen, zu ahnen gewagt – erfuhr es in abgerissenen Worten, Andeutungen, die aus dem heißen, leidenschaftlichen Herzen wie Funken von einem lodernden Feuer stiebten. Daß ich von diesem Feuer nicht ergriffen wäre – wie könnte ich es leugnen! daß es mir unsäglich schwer geworden, ihm zu widerstehen, ich darf es ja sagen. Ja, mein Freund, ich habe gerungen, wie jener Erzvater in der Wundernacht, und aus meiner schwerathmenden Brust, wie er, die zaubermächtigen Worte gekeucht: ‚Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!‘

Und war es denn, um von mir zu schweigen, kein Segen, daß von der Ruhe, zu der ich mich durchgerungen, ein Etwas in die Seele der jungen verzweifelten Frau überging? daß sie – was in einer solchen Lage Alles ist – Zeit gewann, zu sich zu kommen, sich daran zu erinnern, was sie einst besessen; sich zu fragen, ob sie es nicht wieder besitzen könne, wenn sie nur wolle? Ich sehe noch den Blick, mit dem sie mir beim Abschiede die Hand reichte; den tiefen, seelenvollen Blick, in dem doch ein Schimmer der Hoffnung leuchtete; ich höre noch ihre süße Stimme die Worte sagen, die mir reichster Lohn für Alles waren, was ich gethan und gelitten, die Worte: „Ich danke Ihnen, mein Freund!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_736.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)