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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Gotthold stand rathlos vor einer Schranke, die sich unübersteiglich vor ihm aufthürmte und die sein Zorn, seine Verzweiflung wahrlich nicht aus dem Wege räumten. Wessen konnte man sie beschuldigen, als daß sie, jung, großherzig, vertrauensvoll, sich durch einen Schurken hatte täuschen lassen? daß sie dann nach langen Jahren banger, dumpfer Qual beim Anblicke des Freundes ihrer Jugend aufgeathmet und, Rettung suchend, in seine Arme sich geflüchtet hatte? Und jetzt war sie der schuldige Theil, und der Schurke konnte sie, auf seine Rechte pochend, ungestraft verhöhnen, martern, tödten!

So wurde er von Zorn, Haß, Liebe ruhelos umhergetrieben in dem schrecklichen Kreislauf, aus dem kein Entrinnen möglich schien, es hätte denn ein Mittel geben müssen, Den, der in Wahrheit die Schuld trug, vor aller Welt dieser Schuld zu überführen.

Aber läßt sich solche Schuld beweisen?

Gotthold erschrak vor sich selbst, wenn er sich ertappte, grübelnd über die Möglichkeit, diese Beweise herbeizuschaffen. Sollte er seine, Cäciliens Ehre besudeln, indem er die unsaubern Geheimnisse aufdeckte, die sich aus der Herrenstube in Dollan nächtliche Treppen hinauf in das Dachstübchen der Zofe spannen? Nimmermehr!

Und daß der Wüstling, der Spieler aus den dunkeln Maulwurfsgängen des Lasters hervor sich auf die verhältnißmäßig offene Straße des Verbrechens wagen sollte – selbst dieser Gedanke war ihm gekommen; aber zu Vieles sprach dagegen. Einmal traute er dem Schurken nicht den Muth zu, der doch immer zum Verbrechen gehört; sodann hätte Wollnow doch wohl einen Verdacht geäußert, Wollnow, der sich aus Theilnahme, wie es schien, für den Assessor, vielleicht auch aus eigenem Drang der Seele, die jedes dunkle Problem reizte, der Sache so eifrig angenommen, mit solcher Sorgfalt jeder schwächsten Spur, die zur Entdeckung des verlorenen oder gestohlenen Geldes führen konnte, nachgegangen war. Und schließlich, war es nicht eine psychologische Unmöglichkeit, daß selbst ein Brandow – mochte er nun direct oder indirect bei dem Diebstahl betheiligt sein – die Hand des Bestohlenen ruhig fassen konnte, wie er es eben erst gethan, als Gotthold ihn in heiterstem Gespräch mit dem Reconvalescenten und dessen Gattin traf? Freilich, die Angelegenheit war ja in einer für Sellien ausnehmend günstigen Weise vor dem Curatorium St. Jürgen erledigt worden. Man hatte unter dem Vorsitz von Alma’s Vater gefunden, daß dem Assessor eine Schuld in keiner Weise beizumessen sei, da er, als Bevollmächtigter des Curatoriums, so berechtigt, wie verpflichtet war, das Geld in Empfang zu nehmen, und man ihn für das, was sich auf der Dollaner Haide während des Sturzes und nach demselben ereignete, unmöglich verantwortlich machen könne. Das Curatorium habe also die zehntausend Thaler einfach in das Verlustconto zu setzen, „und,“ hatte Sellien’s Schwiegervater geäußert, „wenn es anginge, meine Herren, den hinter dem Hinrich Scheel erlassenen Steckbrief zurückzunehmen, so würde ich für meinen Theil nichts dagegen haben. Der Kerl ist längst über alle Berge, das Publicum wird also ganz unnötigerweise immer wieder an die dumme Geschichte erinnert, das liegt doch weder in unserem Interesse, meine Herren, noch in dem meines Schwiegersohnes.“

Brandow hatte sehr gelacht, als Sellien diese Relation der letzten Sitzung des Curatoriums zum Besten gab, und hatte sich dann leider alsbald empfehlen müssen, da er gleich fort wolle, nachdem er noch einer Sitzung des Renncomité beigewohnt: der siebenten Sitzung innerhalb vierzehn Tagen! er komme gar nicht mehr aus der Stadt fort; aber was solle er thun? es handle sich für ihn Alles darum, daß der Beschluß, ein Stück Moorland in die Bahn für das Herrenreiten zu ziehen, rückgängig gemacht werde. Sein Brownlock, der übrigens mit den übrigen Pferden gestern bereits wohlbehalten angekommen, sei ein Steeple-chaser, wie es je einen gegeben habe; aber gerade bei seiner Sprungkraft sei er auf festen Boden angewiesen; es sei eine Sünde und Schande, daß man so gegen ihn verfahre; selbst der junge Fürst Prora habe erklärt, es sei „indigne“. Aber Reugeld zahle er auf keinen Fall, lieber im Moore stecken bleiben und, wenn’s sein müsse, ertrinken.

„Er ist ein Held!“ hatte Alma Sellien mit einem schwärmerischen Augenaufschlage gerufen, als Brandow die Thür noch nicht hinter sich geschlossen hatte.

„Er ist ein Narr!“ hatte Gotthold gesagt, als er bald darauf durch die stillen verregneten Straßen nach seiner Wohnung schritt; „mindestens ebenso sehr Narr, wie Schurke, und ganz gewiß keiner That fähig, die auch nur in irgend einem Sinne einen Mann erfordert.“

In seiner Wohnung angelangt, fand Gotthold einen Briefe in der ihm jetzt so vertrauten festen, ja kühnen Hand Wollnow’s.

Der Brief war lang; Gotthold meinte, daß derselbe von der Stettiner Affaire handeln werde, über welche er in den letzten Wochen vielfach mit dem Freunde correspondirt. Er hatte sich getäuscht. Seine Augen glühten, als er stehenden Fußes mit fliegender Eile die Seiten durchlas; dann warf er sich in einen Sessel, um alsbald wieder aufzuspringen, denn schon war sein Entschluß gefaßt. Er eilte nach dem Hause, in welchem der Rennclub seine Sitzungen hielt. Herr Brandow hatte nach einem heftigen Wortwechsel mit einigen der Herren vom Comité vor einer halben Stunde das Haus verlassen. Er fuhr nach dem Hôtel, in welchem, wie er wußte, Brandow Logis zu nehmen pflegte. Herr Brandow hatte diesmal dem Hôtel nicht die Ehre erwiesen, war vielleicht im „Goldenen Löwen“ abgestiegen. Der „Goldene Löwe“ wußte nichts von Herrn Brandow, meinte, der Herr möge im „Weißen Roß“ sein. Aus dem „Weißen Roß“ war Brandow vor ungefähr einer Viertelstunde abgereist, der Oberkellner vermuthete, nach Hause, wenigstens habe er seine Sachen nach dem Fährboote bringen lassen.

Das nächste Boot ging erst in einer halben Stunde. Gotthold hatte gerade noch Zeit, nach Hause zu eilen und Sachen für ein paar Tage in einen Nachtsack zu werfen. „Möglich, daß ich erst im ein paar Tagen zurück bin,“ hatte er der Wirthin zugerufen; und bei sich selbst hatte er gesagt: „Möglich, daß ich gar nicht zurückkomme!“


(Fortsetzung folgt.)




 Die Blinde.

Am Rhein ward ich geboren, am grünen Rhein,
Dort, wo nicht fern in seine Brust hinein
Sich perlend hell der Main ergießt.
Wie er durch grüne Wiesen fließt,
Vorbei an Reben, an dem Wald vorbei,
Da schaut er auch, wie mächtig, stolz und frei
Ein Haus sich hier zum Himmel hoch erhebt. –
Der Vater hat es sich zum Trost erbaut
Für seine alten Tage; doch er lebt’
So lange nicht! Sein Haar war kaum ergraut,
Als er uns starb, der Mutter starb und mir,
Die ich ihn heiß, unendlich heiß geliebt. –
Ich weiß es noch, wie er im Garten hier
Mich oft im Arme hielt. Er war betrübt,
Sein Seufzen sagt’s und in den leisen Klagen
Empfand ich, wie sein Herz von Sorgen voll,
Und fühlte, wenn beim Singen ihm und Sagen
Von schönen Märchen niederquoll
Die heiße Thräne auf des Kindes Hand!
Wenn ich hernieder dann mich neigte,
Sie wegzuküssen, sprang er auf und wand
Aus meinen Armen sich und zeigte
Zum Himmel auf und stöhnt’: Du armes Kind!
Denn ach, ich kam zur Welt – und wurde blind.



Blind sein! Kann denn ein Mensch ermessen,
Welch tiefes Weh in diesem Worte liegt?
Kann er sich selbst, die Welt vergessen,
Und fliegen, wie nur der Gedanke fliegt,
Kann er dann, freudig seiner selbst bewußt,
Das Leben ahnen und des Lebens Lust
Und Alles denken? – Was es heißt nicht seh’n –
Das weiß er nicht! das kann er nicht verstehn! –
Welch schönes Land mein theures Heimathland,
Ich kenn’ es nicht! Wo meine Wiege stand,
Ich weiß es nicht! Wo ich geweint, gelacht,
Nichts hat Erinnern mir gebracht.
Ich lebte eine ewig gleiche Zeit!
Nichts war mir gestern, morgen, heut! –
Nur wenn die Menschen sprachen, wenn ich hört’,
Wie laut die lieben kleinen Vöglein singen,
Wenn mir der Gang im Garten nicht gewehrt,
Wenn ich die Sonne fühlt’ in’s Herz mir dringen,
Dann ahnt’ mir, was der Mensch empfinden mag,
Wenn er mit Jubel grüßt den holden Tag.
Doch was der Tag und wie die Sonne scheint,
Daß sie sich Alle jauchzend freuen können,
Das sagt’ mir Niemand, bis ich selbst gemeint,
Es gleicht wohl Sonn’ und Tag, wie sie es nennen,
Der theuren Mutter oder dem Geliebten,
Der nah’ bei uns mit seinem Vater wohnt,
Und der mir Armen, ach, so reich Betrübten,
Für allen Schmerz mit treuer Liebe lohnt.
Kommt er zu mir und spricht von Hoffnung, Muth,
Sagt, was sein Vater, der ein kluger Mann,
Als Arzt an tausend Blinden schon gethan,
Dann wallt in höhern Pulsen mir das Blut;
Dann ist’s, als schien’ die Sonne wärmespendend
Mir tief in’s Herz und alle Schmerzen endend!
Doch wenn er leise wieder von mir scheidet,
Den heißen Kuß mir auf die Stirne drückt,
Dann weiß ich auch, wie ernst die Nacht gekleidet,
Die finster auf den Tag zurücke blickt.
Doch Nacht heißt schlafen, bangen, schweigen –
Und träumen heißt, sich zu den Göttern neigen. –

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