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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Angelegenheit wieder in Vergessenheit, bis vor circa vier Jahren von einem gewissen Dr. Bourion dem Verein für gerichtliche Medicin zu Paris eine Photographie eingereicht wurde, die von der Netzhaut einer am 14. Juni 1868 ermordeten Frau fünfzig Stunden nach ihrem Tode abgenommen war. Auf derselben sollte sich der Moment fixirt haben, wo der Mörder, nachdem er die Mutter erschlagen hatte, das Kind tödtete und der Hund des Hauses auf ihn zusprang. Bourion wollte nämlich in dem vorliegenden Bilde einen Hundekopf und den Ellenbogen eines Mannes erkennen. Leider gelang es den versammelten Aerzten nicht, der phantasiereichen Ausdeutung des Bildes beitreten zu können, und es wurde der vorliegende Fall dem Dr. Vernois zur Untersuchung und Berichterstattung überwiesen. Derselbe hat nun ein Gutachten veröffentlicht, aus dem ich das Wesentlichste kurz mittheilen will. Die genaue Besichtigung des Bildes ließ ihn allerdings in den nebelhaft verschwommenen, undeutlichen und unbestimmten Flecken mit Zurhülfenahme einer sehr lebhaften Phantasie einen Gegenstand erkennen, der eine ganz entfernte Aehnlichkeit mit einem Hundekopfe allenfalls darbieten mochte. Den Ellenbogen aber konnte er bei allem vorhandenen guten Willen sich nicht herausconstruiren. Dazu kam noch, daß nach einer genauen Vergegenwärtigung der Situation es sich nachweisen ließ, daß bei der nach dem Bilde vorauszusetzenden Stellung des Ellenbogens der Hund gar nicht hätte sichtbar sein können.

Damit wäre eigentlich die Sache genügend erledigt gewesen, doch unternahm Dr. Vernois jetzt noch eine Reihe eigener Experimente. An siebenzehn theils durch Erdrosseln, theils durch Blausäure getödteten Thieren, denen er kurz vor dem Verscheiden starkleuchtende auffallende Gegenstände vor’s Auge gehalten hatte, untersuchte er die Augen und konnte in keinem Fall auch nur die Spur eines Bildes auf der Netzhaut entdecken. Endlich machte er auch Versuche an Personen, indem er von denselben helle Gegenstände starr fixiren ließ und dann ihren Augenhintergrund mit dem Augenspiegel untersuchte. Stets erhielt er ein negatives Resultat. Wenn nun auch gerade die letzten Experimente meiner Ansicht nach gar nicht beweisend sind, so dürfte doch auch ohnedies jene abenteuerliche Geschichte vollständig zurückgewiesen sein.

Wie konnte aber, werden meine geneigten Leser fragen, eine so plump angelegte Mystification selbst Aerzte täuschen oder wenigstens denselben einer so ausführlichen Untersuchung werth erscheinen? Um dies zu verstehen, müssen wir uns die beim gewöhnlichen Sehen in Bezug auf die Dauer des Bildes stattfindenden Verhältnisse kurz vergegenwärtigen. Wir wissen, daß auf dem Augenhintergrunde – auf der Netzhaut – das verkleinerte und zwar umgekehrte Bild eines Gegenstandes, den wir sehen, entworfen wird, ganz in derselben Art, wie auf der matten Glasplatte der Camera obscura. Wir können dies Bild sogar an einem todten Thierauge noch zur Anschauung bringen. Wenn wir an der hinteren Halbkugel eines aus dem Kopfe entfernten Kalbsauges ein Fensterchen in die äußeren Häute des Augapfels einschneiden, mit Verschonung der Netzhaut, so kann man auf dieser das deutliche, umgekehrte und verkleinerte Bildchen einer vor dem Auge aufgestellten Lichtflamme durchscheinend erkennen. Natürlich aber verschwindet das Bild in dem nämlichen Augenblick, wo ich dies Licht entferne. Das sieht jedes Kind ein und hätten jene Aerzte auch wissen müssen. – Ganz richtig! Jene Aerzte wußten aber noch mehr, und das war der Fehler; denn sehr oft ist das Nichtwissen heilsamer als das Besserwissen, jedenfalls giebt es weniger Veranlassung zu Scrupeln und Zweifeln. Jene Aerzte wußten nämlich, daß am lebenden Auge eine eigenthümliche Erscheinung beobachtet wird, die allerdings jenem Märchen einen scheinbar wahren Untergrund geben konnte. Der Lichtreiz nämlich, welcher das Auge trifft, wird von der Lichtempfindung, die er verursacht, überdauert, so daß also die Lichtempfindung noch vorhanden ist, wenn das Licht schon aufgehört hat einzuwirken. Die Dauer der Nachwirkung ist desto größer, je stärker das einwirkende Licht gewesen ist und je weniger ermüdet das Auge war. Wenn man einen Moment nach der Sonne oder in eine helle Lichtflamme geblickt hat und dann plötzlich die Augen schließt und mit der Hand bedeckt, oder sich nach einem absolut dunklen Hintergrunde wendet, so sieht man noch kurze Zeit auf dem dunklen Grunde eine helle Erscheinung von der Gestalt des vorher gesehenen hellen Körpers und nennt dieselbe das „Nachbild“.

Diese Nachbilder also gaben die Veranlassung, daß jene oben erzählte Mystification auch nur einen Augenblick für Wahrheit angesehen werden konnte. Es wurde dabei aber vergessen, daß diese Nachbilder mit jenen kleinen Bildchen, die sich auf der Netzhaut entwerfen, so direct eigentlich nichts zu thun haben, denn Das, was wir beim Sehen überhaupt wahrnehmen, Das, was uns zum Bewußtsein kommt, sind die Schwingungen, in welche die Fasern der Netzhaut und weiterhin die des Sehnerven durch die Licht- oder Aetherschwingungen versetzt werden.

Wir können auch durch mechanische Reizung, welche jene Netzhautfäserchen zum Erzittern bringt, Lichterscheinungen hervorrufen: das Funkensehen bei einem Schlag, der unser Auge trifft, ist ja allgemein bekannt. Der Getroffene sieht dabei deutlich einen Lichtschein, – keineswegs aber dürfen wir erwarten, daß dieses Licht auch für einen Anderen, der etwa die Netzhaut des gestoßenen Auges mit einem Augenspiegel untersuchen würde, sichtbar sein könnte. Es ist eben kein objectiv nachweisbares Licht, sondern lediglich eine subjective Lichtempfindung, und jener bekannte gerichtliche Fall, wo Jemand im Finstern einen Schlag auf das Auge bekommen hatte und in seiner Klage angab, er habe bei dem dadurch erregten Lichtschein den Angreifer erkannt, ist in Folge des eingeholten wissenschaftlichen Gutachtens mit Recht zum Nachtheil des Klägers entschieden worden. Ebensowenig dürfen wir also erwarten, von den sogenannten Nachbildern auf der Netzhaut etwa noch ein wirkliches Bild anzutreffen. Die Nachbilder sind subjective Empfindungen und beruhen auf nicht sichtbaren (nur vermutheten) Nachschwingungen der durch das wirkliche Bild in Thätigkeit gesetzten Netzhautfäserchen. Wenn nun also die Nachbilder diese ihnen zugemuthete praktische, das heißt criminalgerichtliche Bedeutung auch nicht haben, so bieten sie doch viel Interessantes dar, da von ihnen viele allgemein bekannte Erscheinungen abhängen, über deren eigentlichen Grund sich aber mancher meiner freundlichen Leser gewiß nicht klar geworden ist. Darum halte ich es für ganz geeignet, hier einige Mittheilungen über die Nachbilder zu machen.

Wir Alle wohl haben in unserer Kindheit ein für die Lehre von den Nachbildern sehr wichtiges Experiment gemacht, ohne uns mit der Erklärung desselben den Kopf zu zerbrechen. Die im Kreise geschwungene glühende Kohle, die einen feurigen Kreis hinterläßt (statt eines wandernden feurigen Punktes) stellt ein physiologisches Experiment in bester Form dar. Suchen wir uns dasselbe klar zu machen. Wenn ich die glühende Kohle an meinem Auge vorüberführe, so werden nacheinander auf der Netzhaut meines Auges eine Reihe nebeneinander gelegener Punkte beleuchtet. Jeder Beleuchtungspunkt behält nun ein kurz dauerndes Nachbild, das bei ganz langsamer Bewegung der Kohle schon wieder verschwunden ist, wenn ich die Kohle um einen Punkt weitergeführt habe. Wird nun aber die Bewegung der Kohle eine immer schnellere, so wird sie einmal eine Geschwindigkeit erreichen, bei der das Bild des glühenden Körpers auf der Netzhaut so schnell von einem Punkt zum andern rückt, daß noch ein Nachbild auf dem eben verlassenen Punkte vorhanden ist, wenn das Bild schon weitergegangen ist. Bei noch schnellerer Bewegung sind zu gleicher Zeit mehrere Nachbilder da, die nun, da sie nebeneinander liegen, zu einer feurigen Linie verschmelzen müssen.

Statt der Kohle, mit welcher wir nur im Dunkeln experimentiren können, eignet sich am besten die sich drehende Scheibe zu diesem einfachen Versuche. Wenn sich auf einer schwarzen Scheibe ein heller weißer Punkt befindet und die Scheibe wird schnell genug gedreht, so erscheint an Stelle des rotirenden Punktes ein gleichmäßig grauer Kreis, an dem wir von einer Bewegung nichts wahrnehmen können. Grau und nicht weiß erscheint die Farbe des Kreises deshalb, weil die Lichtmasse, welche jede Stelle der Netzhaut empfing, nur von dem einen weißen Punkte herstammt, dessen Licht, sich gewissermaßen mit dem Schwarz mischend, sich über den ganzen Kreis gleichmäßig verbreitet. – Befinden sich in demselben Abstand vom Mittelpunkt zwei weiße Punkte, so wird das Grau um diesen, wieder über den ganzen Kreis vertheilten, Lichteindruck heller und wir erhalten auf einer Scheibe, welche das Weiß in verschiedener Vertheilung zeigt, demgemäß die mannigfachsten Schattirungen und Abstufungen.

Eine sehr interessante Modification des eben beschriebenen Experimentes liefern die Beobachtungen bei unterbrochener Beleuchtung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_755.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)