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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

das über die Grenze hinwegnaschte, die Franz mit dem tactvollen Paßschritt und der ernsten Amtsmiene auf- und abwandelte; aber da war auch kein Thier der Herde, alt wie jung, das vor dem lockigen Gesellen zurückschreckte oder gar in angstvolle Flucht gerieth. Ruhig und stetig, wie an einer Schnur geleitet, zog die Herde durch die Flur dahin, und wenn sie an einem Hag oder an einer Hute stille hielt und lagerte, dann umstanden Gruppen von Schafen den Hund wie ein zu ihnen gehöriges Glied der Herde. Wie Franz lautlos, war sein Herr wortkarg, und selten wurde einmal des Letzteren Ruf für Hund oder Herde vernehmbar. Alles ging seinen geregelten Gang vom Austriebe aus dem Pferche bis zum Wiedereintrieb in denselben. Und wenn der Brave von Morgens früh bis Abends spät unermüdlich den angestrengtesten Dienst, hier in der größten Sonnenhitze, dort bei Regen und Sturm, verrichtet, wenn er so ermüdet in der Nacht unter der Hütte seines Herrn endlich zusammengeringelt lag: wie war es erstaunenswerth, daß auch nun die Thätigkeit des Thieres noch kein Ziel in der vollen Hingebung an einen erquickenden Schlaf kannte; denn Franz war als Repräsentant seiner Race dann stets der zuverlässigste Wachhund, in welcher Eigenschaft er nur in seinem Vetter Pommer einen Ebenbürtigen fand. Abweichend aber von diesem besaß Franz mit vielen seiner Race die Eigenschaft, daß er auf Geheiß seines Herrn auch einmal bei einem fremden Schäfer, wozu von dem Hunde selbst der alte Vater und der junge Sohn seines Herrn gerechnet wurde, das Amt des Hütens verrichtete. Aber wehe, wenn sich Einer von diesen unterstand, den Hund in seinem Dienste zu schimpfen oder gar zu schlagen! Dann erwachte in dem an Tadel und Schlag nie gewöhnten Braven der Rächer, der dem Beleidiger an seiner Würde die Wucht seiner Zähne empfindlich fühlen ließ. Außerdem – und das ist einer der ausgeprägtesten Züge dieser Race – ließ sich das Thier bei Ausübung seines Dienstes durch Nichts um ihn herum stören, am wenigsten durch den Anblick fremder Hunde, die er im großen Eifer für seinen Dienst völlig ignorirte.

So war das leibhaftige Bild dieses exemplarischen Eisgrauen der Wetterau, von dem ein Freund von mir zwar noch einen ebenbürtigen Sohn besessen, der aber, schon damals zu alt, ohne Nachkommen starb, so daß er wohl der letzte seines vortrefflichen Stammes gewesen sein wird.

Ja, wie der Pommer mit dem Kernbauer allmählich von der egalisirenden Woge der Cultur in die Hinterlande zurückgedrängt wird, so lichten sich die Reihen des echten Schäferhundes mehr und mehr, um von den Hütern der Herden ein Stück Ur- und Naturwüchsigkeit nach dem andern jener „alle Welt beleckenden“ Macht und dem ewigen Wandel der Dinge dahinzugeben!

Adolf Müller.




Aus dem Lande der Freiheit.


Von Ludwig Büchner.


Zweiter Brief.


„Wie gefällt Ihnen Amerika?“ – „Wie gefällt Ihnen New-York?“ – Dieses sind die Fragen, welche hier Jedermann, namentlich jeder Amerikaner, an den Fremden richtet, nachdem er kaum einige Tage im Lande ist. Natürlich erwartet der Fragende keine andere als eine möglichst lobende oder enthusiastische Antwort; denn der Amerikaner ist stolz auf sein Land und noch stolzer auf dessen bedeutendste Stadt New-York, in welcher sich nach seiner Meinung Alles concentrirt, was die moderne Civilisation Großes und Schönes aufzuweisen hat. Und in der That mag er in mancher Beziehung nicht Unrecht haben. Die so oft beschriebene, unvergleichliche Lage der riesigen Stadt auf einer langhingestreckten, von zwei Meeresarmen umfaßten Insel, welche ihrerseits wieder von größeren und kleineren Inseln oder Halbinseln umgeben ist, an deren Ufern sich Neben- oder Schwesterstädte ausbreiten, welche an Größe mit den europäischen Hauptstädten wetteifern; die ungeheuren Häfen (vielleicht die größten der Welt), in denen sich die Schiffe aller Länder und Nationen zu Hunderten und aber Hunderten wiegen und auf denen die bekannten Ferrys oder Flachboote, welche Tausende von Menschen neben vielen Wagen und Pferden auf einmal aufnehmen, zur Vermittelung des Verkehrs nach allen Richtungen umherschießen; die alle Begriffe übersteigende Größe des Verkehrs in der sogenannten unteren oder dem Meere zugekehrten Seite der Stadt, welche selbst das betäubende Gewühl der Pariser Boulevards oder der Londoner City hinter sich läßt; die große Menge verschwenderischer Prachtbauten und der überall zu Tage tretende enorme Reichthum; die gar nicht endenwollende und stundenweit in die Länge sich erstreckende Ausbreitung der Stadt selbst und so manches Andere machen New-York ohne Zweifel zu einer der ersten Städte der Welt! Ob aber auch zu einer der schönsten, wie der Amerikaner meint, ist eine Frage, die nicht so unbedingt zu bejahen sein dürfte. Dazu fehlt New-York, wie Amerika überhaupt, gerade Dasjenige, was die alte Welt auszeichnet und was in meinem ersten Briefe als das hauptsächlichste Unterscheidungsmerkmal zwischen Europa und der neuen Welt betont wurde – die historische Entwickelung nämlich.

Auf jedem Schritte, den der frischangekommene Europäer hier thut, fällt es ihm auf, daß er sich nicht in einer gewordenen, sondern in einer gemachten Stadt befindet, welche überdem die Spuren der mit ihrem rapiden Wachsthum nothwendig verbundenen Unfertigkeit in einer verzweifelt deutlichen Weise an der Stirn trägt und sich nicht entblödet, den Wanderer in ihren Straßen, wenige Schritte von ihren glänzendsten Avenuen entfernt, über Moräste, Grashügel, Düngerhaufen, Ziegenställe, Pferdeschuppen, ungesprengte Felsenmassen u. dgl. stolpern zu lassen. Nur das untere, dem Meere in Form eines stumpfen Kegels zugekehrte Drittel oder eigentliche Geschäftsviertel der Stadt läßt Fertigkeit und, da es den ältesten Theil bildet, auch eine gewisse Mannigfaltigkeit wahrnehmen, während von dort aufwärts jenes regelmäßige Quadrat- oder Blockwesen amerikanischer Städte beginnt, welches sich in endloser Einförmigkeit immer weiter und weiter erstreckt. Die Straßen haben keine Namen mehr, wie in der unteren Stadt, sondern werden nur nach fortlaufenden Nummern gezählt; und während vor zehn oder zwanzig Jahren die Stadt sich nur bis zur zehnten oder elften Querstraße erstreckte, reicht sie jetzt bis zur einhundertundfünfzigsten oder noch weiter und ist bis weit über die zweihundertste Straße hinaus angelegt.

Theilweise unterbrochen wird dieses Häusermeer, in welchem in der Regel ein Haus genau so aussieht wie das andere, allerdings auf eine angenehme Weise von der neunundfünfzigsten bis zur hundertzehnten Straße durch den berühmten, in englischer Manier angelegten Centralpark oder Centralgarten, welcher den Stolz der New-Yorker bildet und wohin alltäglich bei schönem Wetter der berühmten fünften Avenue oder Längsstraße entlang die eleganten Carossen der „oberen Zehntausend“ wallfahren. Einen organischen Mittelpunkt, wie Paris oder Wien, besitzt unter solchen Umständen New-York selbstverständlich nicht, wenn man nicht gerade den die ganze Stadt der Länge nach durchziehenden und die elegantesten Läden beherbergenden berühmten, endlos langen Broadway dafür gelten lassen will, und die berühmten Flaneurs der Pariser Boulevards oder der Wiener Ringstraße sind hier unbekannte Dinge. Ebensowenig kennt man hier die dem dolce far niente, dem süßen Nichtsthun, gewidmeten Kaffeehäuser, welche in jenen Städten den Mittelpunkt der eleganten Welt bilden. Für solche Zerstreuungen hat der Amerikaner keine Zeit; er rennt, jagt, tobt vom Morgen bis zum Abend unaufhörlich nach jenem Dinge, was man hier den „almighty dollar“ oder den allmächtigen Dollar nennt, und der stille, behagliche Lebensgenuß unserer europäischen Kleinstädte ist für ihn meist ein unbekanntes Ding. Freilich sind auch die Anforderungen, welche das materielle Leben hier an den Einzelnen stellt, so unverhältnißmäßig groß, daß ihnen in der Regel nur durch die größten persönlichen Anstrengungen genügt werden kann.

Daß unter solchen Umständen für die Einkehr des Geistes in sich selbst oder für geistige und wissenschaftliche Arbeit überhaupt nicht viel Zeit oder Muße übrigbleibt, ist selbstverständlich. Doch hat unter diesem Umstande die Werthschätzung geistiger Arbeit bei den Amerikanern nicht Noth gelitten; und die Art,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_762.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)