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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wie der Verfasser dieser Briefe schon in der ersten Zeit seines Hierseins bei Gelegenheit der dritten Jahresfeier des American liberal Club (Amerikanischer Verein der Freigesinnten) am 5. October aufgenommen und ausgezeichnet wurde, lieferte ihm den besten Beweis dafür, welcher Anerkennung sich namentlich deutsche Geistesarbeit unter den Amerikanern selbst erfreut. Dazu kommt, daß Amerika den Mangel eigener Thätigkeit auf diesem Felde durch eine bei uns beinahe unerhörte Opferwilligkeit und Freigebigkeit für wissenschaftliche und bildende Zwecke überhaupt zu ersetzen versteht. Wir können uns kaum vorstellen, was z. B. für Schulzwecke in diesem Lande durch bloße private Hülfe und Unterstützung geleistet wird; und als ich gestern das berühmte Cooper-Institut besuchte, mußte ich mir mit Beschämung gestehen, daß etwas der Art in Europa nicht gefunden werden kann. Eine blos durch die Opferwilligkeit eines einzigen reichen Mannes gegründete großartige Bildungsanstalt, welche Jedermann jederzeit unentgeltlich zur Verfügung steht und deren starke Benutzung zeigt, welch nützliches Werk ihr Begründer geschaffen hat. Namentlich das riesige, die Zeitungen und Literaturblätter beinahe der ganzen gebildeten Welt neben mancherlei anderen Bildungsmitteln enthaltende Lesezimmer war so stark besucht, daß es schwer halten mochte, einen bequemen Platz zu finden.

Was freilich die eigentliche höhere und Universitätsbildung oder die Vorbereitung für gelehrte Berufsarten angeht, so leidet dieselbe in Amerika noch unter viel und mancherlei schweren Mängeln oder Gebrechen, deren veranlassende Momente allerdings der Amerikaner (wie ich glaube mit Unrecht) bis jetzt noch für untrennbar von republikanischer Freiheit hält. Ganz dasselbe gilt auch für eine nicht geringe Anzahl politischer Gebräuche oder Herkommen, deren allenfallsiger Nutzen im Sinne republikanischer Freiheit doch durch ihre sonstigen großen Nachtheile sehr in den Schatten gestellt wird. Dahin gehören z. B. der Wechsel oder die Absetzbarkeit der Staatsbeamten bei dem Wechsel des Präsidenten; oder die Wählbarkeit der richterlichen Beamten; oder die Abwesenheit des Schulzwangs; oder die ausgedehnteste Anwendung des allgemeinen Stimmrechts, selbst da, wo den Massen, die dieses Recht ausüben, alle Vorbedingungen für nützliche Anwendung desselben abgehen, oder wo es ihnen durch Corruption und Parteiumtriebe verkümmert wird. Selbst die Wahl des obersten Beamten der Republik, des Präsidenten, dessen persönliche Macht größer ist, als die eines wirklich constitutionellen Monarchen oder der Königin von England z. B., ist in der diesjährigen Wahlperiode – einer der wichtigsten, welche das Land jemals erlebt hat – durch heimliche Parteiumtriebe derart in falsche Bahnen geleitet worden, daß dem wählenden Volke nur noch die Wahl zwischen zwei Candidaten übrig geblieben ist, von denen der Eine so wenig den Beifall der Gebildeten hat, wie der Andere, und daß das Land unter allen Umständen – ob Grant oder Greeley – einer vierjährigen Mißregierung entgegensieht. Rechnet man dazu, daß die Urheber der großartigsten und unverschämtesten Diebstähle, welche jemals am Geldbeutel des Volkes begangen worden sind, oder die ehemaligen Väter der Stadt New-York zum Theil noch frei hier herumlaufen, und daß die Corruption oder Bestechlichkeit in Staats-, Stadt-, Beamten- und Journalistenkreisen, sowie in den Kreisen der politischen Führer allgemein bekannte und zugestandene Sache ist, so muß man zugeben, daß trotz Freiheit und Republik doch noch etwas faul sein muß „im Staate Dänemark“.

Alles dieses spricht natürlich nicht im Geringsten gegen den Werth republikanischer Constitutionen überhaupt; im Gegentheil zeigen sich diese in einem um so glänzenderen Lichte, je mehr sie das Land befähigen, solche Abnormitäten ohne wesentliche Beeinträchtigung seiner Interessen oder seiner riesigen Entwickelung zu überdauern – ein Verhältniß, an welchem sogar eine unglückliche Präsidentenwahl nicht viel zu ändern im Stande sein wird. Hat doch Amerika sogar die traurigen Folgen des unseligen Bürgerkrieges in einer Weise überlebt und überdauert, die einem monarchischen Staate kaum zuzutrauen möglich ist, und die so unendlich schwierige und scheinbar unlösliche Sclavenfrage so gründlich aus der Welt geräumt, daß man ihre Folgen gegenwärtig, wenigstens in den nördlichen Staaten, fast nicht mehr empfindet. Es müssen in New-York eine große Menge von Schwarzen leben, denn fast der fünfte oder sechste Mensch, dem man auf der Straße begegnet, ist ein Schwarzer oder eine Schwarze; aber in gesellschaftlicher Beziehung verspürt man davon nicht den geringsten Nachtheil, sondern nur Vortheil, da Schwarze zu allen möglichen Geschäften und Dienstleistungen brauchbar und willig sind, wenn sie auch, bis jetzt wenigstens, nur diejenige gesellschaftliche Rangstufe einnehmen konnten, die ihnen ihre geringere Anlage und Bildung zuweist. Freilich darf man dabei nicht vergessen, daß der unter Weißen geborne und im Umgang mit ihnen aufgezogene Neger ein anderes Wesen ist, als der Neger der afrikanischen Wildniß.

Rechnet man dazu die ungeheuren Menschenmassen, welche Europa alljährlich aus sich ausstößt und an das amerikanische Ufer wirft, und welche ebenfalls die große Republik des Westens trotz so vieler abnormer und widerhaariger Elemente in sich aufzunehmen und zu verdauen genöthigt ist, so wird man zugeben müssen, daß nur ein auf die Grundsätze der Freiheit und Gleichberechtigung gegründeter Staat solche Aufgaben so glücklich zu lösen im Stande ist. Aber dieses hindert nicht, daß nicht Gutes durch Besseres ersetzt werden kann; und wenn nicht alle Anzeichen trügen, so werden die diesjährigen Erfahrungen nicht wenig dazu beitragen, um einer politischen Agitation Bahn zu brechen, welche früher oder später zur Abschaffung des Instituts der amerikanischen Präsidentschaft[1] überhaupt führen wird. Wenigstens habe ich bis jetzt hier kaum Einen gebildeten Deutschen gesprochen, der nicht im Princip die Unzweckmäßigkeit und das Unrepublikanische der Präsidentschaft anerkannte; und die Eröffnung des Feldzugs gegen die Präsidentschaft als solche wird noch im Laufe dieses Monats durch eine gut vorbereitete Massenversammlung der Deutschen geschehen, welche überhaupt in Allem, was sich mehr auf ideelle Politik, als auf bloße politische Drahtzieherei bezieht, das treibende Element in Amerika zu bilden scheinen. Viel mag dazu neben der mehr zum Idealistischen neigenden Natur des Deutschen auch der immer noch fortdauernde Einfluß der sogenannten Achtundvierziger, oder der in jenem Jahre aus Deutschland vertriebenen Republikaner beitragen. Zu bedauern ist dabei freilich, daß sich Deutsche und Amerikaner hier immer noch einander viel fremder gegenüberstehen, als man draußen anzunehmen geneigt ist, und daß es genug Deutsche in guten Stellungen hier giebt, welche zu amerikanischem Leben so gut wie keine Beziehung haben, ja nicht einmal englisch reden oder verstehen, obgleich sie schon viele Jahre hier sind. Auf der andern Seite ist es auch wieder sehr anzuerkennen, daß die deutsche Geselligkeit sich hier in der Fremde in noch hervortretenderer Weise geltend macht, als zu Hause, und daß es geradezu zahllose Vereinigungsgelegenheiten jeder Art und jeden Zweckes für Deutsche giebt.

Eine der hervorragendsten, wenn nicht die hervorragendste Gelegenheit dieser Art bietet der New-Yorker Turnverein, welcher gesellige, bildende und Schulzwecke in gleicher Weise verfolgt und soeben mit Erbauung eines Turnhauses fertig geworden ist, dem sich kaum ein ähnliches in Deutschland an die Seite zu stellen im Stande sein wird. Praktisch, wie man in Amerika immer ist, hat man die Zinsen des enormen Baucapitals dadurch zu decken gewußt, daß man die nicht einmal sehr großen, aber zweckmäßig eingerichteten Kellerräume des in einer frequenten Straße gelegenen Gebäudes an einen Wirth um die für unsere Begriffe unfaßliche Pachtsumme von zehntausend Dollars jährlich vermiethet hat. Darnach können Sie sich einen ungefähren Begriff von der Kostspieligkeit des New-Yorker und des amerikanischen Lebens überhaupt machen, in welchem ein Dollar noch nicht so viel bedeutet, als ein halber Thaler bei Ihnen oder ein Gulden in Süddeutschland. Wer daher hier Geld verdient und es in Europa verzehrt, thut gut. Wer es aber umgekehrt machen wollte, wäre ein Thor; und wenn die reichen Amerikaner im Sommer Europa besuchen, so ist es bei ihnen nicht selten ebenso sehr auf Ersparniß, wie auf Vergnügen abgesehen. Doch damit genug für heute aus dem Lande, in welchem uns so Vieles nicht Wunder nehmen oder befremden wird, sobald wir nicht vergessen, daß wir uns mitten in einer riesigen, wenn auch noch ganz jugendlichen Entwickelung befinden; und daß Menschen, Geld, Zeit und Kraft nur insoweit geschätzt werden, als sie sich dieser Entwickelung dienstbar zu machen verstehen.


  1. Keinen Präsidenten? Was dann?
    D. Red.




Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_763.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)