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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

bei seinem Kommen und er müßte sie suchen und würde sie nicht finden, weil es zu dunkel war!

Oder war das Alles nur Unsinn, wie er in dem wüsten Kopfe eines Menschen entsteht, der seit Stunden einsam in einer regendunstigen Chaise auf zerfahrener Landstraße gerüttelt wird und in die graue Luft hineinstarrt, die mit jeder Minute grauer und undurchsichtiger wird? War es die schaudervolle Vorstellung einer schaudervollen Möglichkeit? Hinrich Scheel hatte ihm das Pferd abgenommen, als er nach Hause kam, und zwei Stunden später war Hinrich Scheel verschwunden gewesen. Jetzt war er mindestens vier Stunden schon zu Hause; so hatte er doppelt so viel Zeit gehabt.

Gotthold riß das auf der einen Seite noch geschlossene Schutzleder zurück, ihm war, als müßte er ersticken. Endlich! Da dicht vor ihm lag die Schmiede; er würde die wackeren Prebrows sehen, sprechen, sie wohnten so in der Nähe; sie konnten ihm gewiß sagen, daß sie sie noch ganz vor Kurzem gesehen, gesprochen hätten.

Die Schmiede war öde und verlassen; es mußte schon ein paar Stunden her sein, daß der Blasebalg in Bewegung gesetzt war: eine dicke Aschendecke lag über den ausgegangenen Kohlen. Es schien, als ob Vater und Sohn, die das uralte Häuschen allein bewohnten, nur eben so von der Arbeit weggelaufen wären. Auf dem Ambos lag das Stück, an welchem sie zuletzt geschmiedet, Zange und Hämmer daneben auf dem Boden, als hätte man sie eben nur aus der Hand geworfen, um in aller Eile aus der Thür stürzen zu können, die weit offen stand. Der Knecht war sehr ungehalten: eine Feder an dem Wagen war so gut wie gebrochen; er hatte darauf gerechnet, daß sie ihm hier den Schaden zurechtflicken könnten, so ginge es nicht mehr. Gotthold hieß den Burschen langsam nachkommen, er wolle zu Fuß voraus.

Es hätte ihn keine Minute länger geduldet; der Anblick der verlassenen Schmiede hatte die dämonische Angst, die ihn schon auf der ganzen Fahrt gepeinigt, in’s Grenzenlose gesteigert. Er eilte den abwärtsgleitenden Weg über die Haide, des Regens nicht achtend, welchen der Wind ihm bei seinem schnellen Lauf mit doppelter Heftigkeit in’s Gesicht trieb, den Blick immer auf die nächste Hügelwelle gerichtet, die vor ihm lag und die unerreichbar schien. Dann stand er keuchend oben, aber der Blick nach rechts war um nichts freier geworden; ein grauer Nebel zog vom Moore her näher und näher, so nahe schon, daß der schroffe Hang des nächsten Hügels nur noch eben durch den sprühenden Dunst dämmerte und er die Unglücksstätte kaum wieder erkannte. Am Fuße derselben angelangt, erinnerte er sich, daß man unten, wenn man sich hart an dem Rand hielt, zwischen Hügel und Moor durchkommen konnte; so ließ er denn die langgestreckte Höhe selbst links über sich liegen.

Aber indem er sich so nach der Tiefe wandte, gerieth er immer mehr in den Nebel, welcher sich jetzt wie eine grauwogende See über das Moor gebreitet hatte und an der steilen Böschung in Streifen emporwirbelte, der Brandung gleich, welche ein heftiger Wind an den Uferklippen hinaufpeitscht.

Und während nach links die Höhe seinen Blick hemmte und er nach rechts in den grauen Nebel starrte, der ihn kaum erkennen ließ, wohin er den Fuß setzte, stieg mit jedem Schritte jene grauenhafte Angst; ihm war, als müsse sich jeden Augenblick der Nebelvorhang heben, ihn ein schauderhaftes Bild, das er jetzt noch verhüllte, sehen zu lassen; und die Höhe, an der er sich hindrückte, sei nur da, damit er diesem Schauspiel nicht entrinnen könne. Und da war es ja!

Gotthold stand, bebend, mit weit aus den Höhlen getretenen Augen in den Nebel stierend. Es konnte nur eine Ausgeburt seiner bis zum Wahnsinn aufgeregten Phantasie gewesen sein, denn er sah jetzt nichts, gar nichts, und hatte es eben doch ganz deutlich gesehen: vier oder fünf Gestalten, die in einem Kreise umherstanden und mit langen Stangen in dem Moore suchten – Nebelspuk!

Nein, nein, kein Spuk! oder die Gespenster hätten denn sprechen können, mit menschlichen Stimmen, die er ganz deutlich unterschied, wenn er auch die Worte nicht verstehen konnte, und jetzt hörte er auch ein paar Worte: „Hier wär’ es möglich!“

Nein, nicht möglich – es war gewiß; er wußte jetzt, wovor er sich geängstigt hatte.

Im nächsten Moment war er mit einem Sprunge durch das hohe Riedgras, welches an dieser Stelle mit breitem Gürtel den Sumpf umschloß; die Rasendecke hob und senkte sich unter ihm – er merkte es nicht; ein und das andere Mal spritzte unter den eilenden Füßen das Wasser heraus – er achtete es nicht; seine Blicke bohrten in den Nebel nach der Seite, von woher er die Stimmen vernommen und jetzt wieder vernahm und ganz nahe schon; und da tauchten auch die Gestalten abermals auf, die ihm vorhin ein Riß in dem Nebel gezeigt, und jetzt war er bei ihnen: „Vetter Boslaf!“

„Steh’ weiter fern, und ihr Anderen auch! Wir sind hier zuviel; es trägt uns nicht; und ich kann es schon allein.“

Sie traten zurück; der Alte ließ die lange, mit einem eisernen Haken versehene Stange mehrmals vorsichtig durch das Wasser gleiten, welches hier zwischen Binsen und nickendem Gras einen kleinen dunklen Pfuhl gebildet hatte. Dann zog er sie heraus; und gab sie einem der Männer. „Es ist nichts. Das war die letzte Stelle, wir wollen zurück; bleibt genau hinter mir, und auch Du, Gotthold! immer in meinen Fußstapfen.“

Der alte Mann schritt voran, die Büchse auf der Schulter, gleichmäßig langen Jägerschrittes, daß die Andern, unter denen sich auch Clas Prebrow, Jochen’s Bruder, befand, Mühe hatten, hinter ihm zu bleiben. Ein paarmal blieb er stehen; er schien dann den Boden zu prüfen; aber das war immer nur für ein paar Momente. Dann ging es weiter in den Nebel hinein. Die Leute folgten ohne Zaudern; sie wußten, daß sie ruhig folgen konnten, wenn Vetter Boslaf voranging; und da wurde auch der Boden fester und fester, sie waren genau wieder an der Stelle, von der sie vor einer Stunde ausgegangen waren; Vetter Boslaf rief Gotthold an seine Seite.

„Seit wann?“ fragte Gotthold.

„Schon heute Nacht, in der zweiten Morgenstunde; die Hunde sind laut gewesen; ich weiß es erst seit drei Stunden.“

„Und Ihr habt noch Hoffnung?“

Der alte Mann starrte in den Nebel hinein.

„Wir haben sie nicht gefunden,“ sagte er; „so mögen die Andern sie ja auch nicht gefunden haben, und dann wäre noch Hoffnung, trotzdem es wenig wahrscheinlich ist, daß sie in der dunklen Nacht mit dem Kinde weit gekommen sein sollte.“

„Mit dem Kinde,“ rief Gotthold, „mit Gretchen! dann ist Alles gut; sie würde dem Kinde nie ein Leides thun.“

„Ein Leides!“ sagte der alte Mann, „ein Leides! es giebt größere Leiden, als den Tod.“

Gotthold durchzuckte es. Sie hatte sich nicht von dem Kinde trennen wollen; sie hatte um des Kindes willen es tragen zu müssen, tragen zu können geglaubt. Nun war es unerträglich geworden, und sie mußte die Last abwerfen. Was sollte aus Gretchen werden? es giebt schlimmere Leiden als den Tod.


(Fortsetzung folgt.)




Spuren großer Dichter.


Von Sigmund Kolisch.


Torquato Tasso in Sorrent. – Petrarca in Vaucluse. – Schiller in Jena. – Goethe in Weimar und Karlsbad.


Den Spuren großer Menschen nachzugehen, welche den armen Erdengeschlechtern Welten voll Licht, Glanz und Reichthum zum Geschenke machen und ungekannte Quellen erschlossen, aus denen sie ohne Ende Trost, Freude und Begeisterung schöpfen, gehört wohl zu den schönsten Genüssen, die ein Kind dieses Jammerthals sich verschaffen kann. Und doch – wenn wir die Stätten betreten, wo solche große Menschen gewandelt, wer kann sich des Gefühls der Wehmuth erwehren, der Wehmuth über die Hinfälligkeit alles Irdischen und über die grausame Wahrheit, daß von jeher der Zwillingsbruder des Genius der Schmerz war? Sorrent! Deine flüsternden Orangenbäume erzählen gar viel von dem Weh des Sängers des „befreiten Jerusalem“ und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 768. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_768.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)